Arundhati Roy, geb. 1961 in Meghalaya, ist Booker-Prize-Trägerin und kritisiert Missstände in Indien.

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Arundhati Roy, "Das Ministerium des äußersten Glücks". € 24,- / 560 Seiten. S.-Fischer-Verlag, 2017

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Zwanzig Jahre nach dem Erfolg ihres Romans Der Gott der kleinen Dinge ist Arundhati Roys neues Buch erschienen. Das Ministerium des äußersten Glücks ist eine Allegorie auf die Geschichte Indiens mit einem opulenten Reigen aus ineinander verwobenen Erzählfäden. Roy beschreibt das Leben ihrer Protagonisten auf der Suche nach Liebe und Glück zwischen dem blutigen Kaschmir-Konflikt und einem aggressiven Hindu-Nationalismus.

STANDARD: Ihr neuer Roman zeichnet das Bild eines zerrissenen und gewalttätigen Landes. Es geht um Menschen am Rande der Gesellschaft, um Übergriffe auf Muslime und die Folgen des Kastensystems, das bis heute wirkt. Kann Ihr Roman Indien besser erklären als etwa eine politische Analyse?

Roy: Für mich liegt in der Literatur eine andere Wahrheit. Es ist ja nicht so, dass man sich in der Literatur alles ausdenken muss. Aber Literatur ist für mich die einzige Möglichkeit, um die Welt richtig zu betrachten. Es wäre schwierig, über Kaschmir einen reinen Sachtext zu schreiben, dazu ist der Konflikt zu komplex. Es geht nicht nur darum, wie viele Menschen dort umgebracht wurden, sondern auch darum, wie sich die Atmosphäre in einer Region unter militärischer Besatzung anfühlt. Das kann nur Literatur.

STANDARD: Sie schildern die obszöne Kluft zwischen Arm und Reich in Indien. Das ist weltweit ein Problem, aber debattiert wird meist über Identität und nicht über soziale Gerechtigkeit. Woran liegt das?

Roy: Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich schafft erst den Rückzug in die eigene Identität, in Indien, aber auch weltweit. Wenn es einen Konflikt zwischen zwei Kasten gibt, dann liegt die Ursache für den Streit vielleicht darin, dass der Zugang zu Ressourcen wie Land oder Wasser schwieriger geworden ist. Wie meldet man seine Ansprüche am besten an? Indem man der eigenen Gruppe ein vorrangiges Recht zuschreibt. Wir haben in Europa vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gesehen, was passiert, wenn man sich in einen starken Nationalismus zurückzieht. Das Phänomen ist also nicht neu, aber ein sehr ernstes Problem.

STANDARD: Manchmal wirkt die indische Gesellschaft in Ihrem Roman doch etwas schwarz-weiß.

Roy: Manche Dinge sind einfach schwarz oder weiß. Zum Beispiel die Idee der Riesenstaudämme: Sie ist gescheitert. Es hat keinen Sinn, Vor- und Nachteile abzuwägen. Diese Projekte haben das Ökosystem zerstört, ohne ihre Versprechen einzulösen. Aber in meinem Roman geht es nicht schwarz-weiß zu, es geht um unterschiedliche Formen von Liebe, von Überleben.

STANDARD: Stellen Figuren wie Anjum, eine Hijra (Frau in einem männlichen Körper), oder die Aktivistin Tilottamma Teile Ihrer eigenen Persönlichkeit dar?

Roy: Sie sind Teil meines Universums, ich lebe seit Jahren mit ihnen. Manchmal sind sie inspiriert von Menschen, die ich getroffen habe. Ich kenne sie besser als viele Menschen im realen Leben. Es ist merkwürdig, aber ich habe die Figur Anjum zwar erfunden, aber heute ist sie diejenige, die mich beschützt. Selbst während meiner Lesereise durch Europa habe ich das Gefühl, dass mich Anjum begleitet und wir zusammen reisen.

STANDARD: Wie sind denn die Reaktionen auf Ihr Buch in Indien?

Roy: Die Verkaufszahlen sind hoch, die Kritiken unterschiedlich, aber ich hatte noch keine Lesungen in Indien. Es sind im Moment schwierige Zeiten. Als ich meinen Essayband vorstellte, haben Schlägertruppen die Bühne verwüstet. Ich möchte nicht, dass die ersten Nachrichten über meinen Roman damit zu tun haben.

STANDARD: Verstehen indische Fans den Roman möglicherweise anders als die Leser im Westen?

Roy: Indien ist ein eigenes Universum. Für Menschen in Delhi ist Kerala eine ganz andere Welt. Wir haben viele Sprachwelten. Meinen neuen Roman würden Menschen in Kerala etwa lesen wie ein Europäer. Wenn ich aber mit den Übersetzern des englischen Originals für die Ausgabe in Hindi oder Urdu arbeite, dann ist das für mich so, als würde der Roman nach Hause kommen.

STANDARD: Sie sind auch als politische Aktivistin sehr engagiert ...

Roy: Ich mag das Wort "Aktivistin" nicht so gerne. Früher waren Schriftsteller, die sich politisch eingemischt haben, einfach Dichter. Für mich ist die Aufteilung in Schriftstellerin und Aktivistin nur der Versuch, das Schreiben selbst als weniger bedeutend darzustellen. Manchmal schreibe ich Literatur, manchmal einen Sachtext, aber es ist immer das Schreiben selbst, das zählt.

STANDARD: Aber woher kommt Ihr beeindruckendes Engagement?

Roy: Der Gott der kleinen Dinge ist ein sehr politisches Buch. Ich stand jahrelang in Kerala vor Gericht, weil ich mit der Kritik am Kastensystem angeblich die "öffentliche Moral" gefährdet habe. Anders als die meisten Inder gehöre ich nicht zu einer Kaste, weil meine Mutter als Christin einen Hindu geheiratet hat und später geschieden wurde. Für mich ist diese Kastenhierarchie das Schlimmste in Indien. Wir sind eine Gesellschaft, die die Ungerechtigkeit institutionalisiert hat, sie fast schon als ein Element des Hinduismus heiligspricht. Für mich ist es verabscheuungswürdig, Menschen so einzuteilen.

STANDARD: Haben Sie durch Ihre Herkunft einen anderen Blick auf die Dinge?

Roy: Ich denke schon, aber es kommt noch etwas anderes dazu. Nachdem ich für meinen ersten Roman 1997 den Booker-Preis bekommen hatte, war ich weltweit auf Magazin-Titelseiten zu sehen. Bald danach ist die rechtsgerichtete Bharatiya-Janata-Partei an die Macht gekommen, es gab die Atomtests, und ich wurde als das Gesicht der neuen Supermacht Indien vermarktet. Aber das bin ich nicht! Aus diesem neuen indischen Nationalismus musste ich aussteigen. Es war unangenehm für mich als Schriftstellerin, weltweit als Vertreterin eines Landes gefeiert zu werden, in dem derart große Ungerechtigkeit herrscht: Viele Menschen können noch nicht einmal lesen und schreiben oder haben nicht genug zu essen. Ich wollte zu diesen Menschen gehen, über sie schreiben und mit ihnen solidarisch sein. Ich konnte einfach nicht mit dieser glitzernden literarischen Karriere weitermachen. Das hat viele Menschen in Indien verärgert. Aber es gibt auch viel Zuneigung, wenn ich genau jene Orte besuche, an die sonst niemand geht.

STANDARD: Momentan spitzt sich das politische Klima in Indien zu. Anfang September wurde in Bangalore eine regierungskritische Journalistin und Freundin von Ihnen ermordet. Was bedeutet dieses Verbrechen für Indien?

Roy: Es bedeutet auf jeden Fall eine neue Dimension, denn zum ersten Mal wurde in dieser Weise eine Frau aus nächster Nähe erschossen, vom Mord an Indira Gandhi abgesehen. Der Raum für öffentliche Debatten ist in letzter Zeit geschrumpft, aber es gibt auch mehr Proteste gegen Einschüchterung. Der Mord ist ein Wendepunkt, aber wir wissen noch nicht, was kommt. Mich beunruhigt, dass die Regierung angesichts ihres Versagens an allen Fronten gezielt zum Hass und zum Mord an Muslimen aufruft. Es ist eine extrem unsichere Situation.

STANDARD: Haben Sie Angst?

Roy: Man muss immer vorsichtig sein und Bescheid wissen, wie die Lage ist. Die Fernsehsender verbreiten gefährliche Hetze. Ich habe keine Angst, aber ich will auch nicht zur Märtyrerin werden. Trotzdem möchte ich zurückgehen, denn jetzt ist Zeit, unsere Stimme zu erheben. (Claudia Mende, 1.10.2017)