Russische Berichte über den Tod des Chefs und selbsternannten "Kalifen" des "Islamischen Staats" wurden von den USA, die wie die Russen lokale Quellen haben, bereits vor Monaten angezweifelt: Erst vor einem Monat wiederholte der amerikanische Kommandeur der Anti-IS-Koalition, General Stephen Townsend, die Ansicht, dass Abu Bakr al-Baghdadi noch am Leben sei. Dass das nun aufgetauchte Tondokument erst vor kurzem aufgenommen wurde, ist sicher, es gibt Anspielungen auf aktuelle Ereignisse. Ob darauf auch tatsächlich Baghdadis Stimme zu hören ist, muss noch in näheren Untersuchungen geklärt werden. Aber die Geheimdienste tendieren offenbar dazu, das Band für echt zu halten.

Ibrahim Awwad al-Badri alias Abu Bakr al-Baghdadi hat sich persönlich stets rar gemacht, es gibt nicht viele Aufnahmen von ihm. Wenn er sich jetzt zu Wort meldet, dann hat das einen ganz bestimmten Sinn. Er scheint die Niederlage zuzugeben, territorial steht sein "Staat" ja tatsächlich vor dem Aus. Gleichzeitig signalisiert er seinen Anhängern, dass sein jihadistisches Projekt nicht gestorben ist. Das wäre es zwar auch nicht, wenn Baghdadi tot wäre, aber dass er selbst zu seinen noch verbliebenen Anhängern spricht, hat für diese eine große Bedeutung.

Tausende Hinterbliebene

In Europa sind wir mit Riesenproblemen mit unseren eigenen IS-Rückkehrern beschäftigt: Was machen wir mit den Traumatisierten, mit den Bekehrten und mit den Unbelehrbaren, wie reintegrieren wir sie, wie halten wir sie in Schach? Im Irak und in Syrien ist dieses Phänomen jedoch von einem ganz enormen Ausmaß: Viele männliche IS-Kämpfer sind tot – oder aber untergetaucht –, in den irakischen Camps sitzen tausende ihrer Frauen und Kinder, von denen niemand weiß, was man mit ihnen tun soll.

In Syrien konzentrieren sich in der Provinz Idlib nicht nur "normale" Rebellen, auch die gesamte jihadistische Szene mit ihrem Anhang sucht dort Zuflucht. Wenn Abu Bakr al-Baghdadi, wie vermutet wird, vom syrisch-irakischen Grenzgebiet aus spricht, dann ist er nicht allein, auch wenn er versteckt ist: Er hat noch immer ein großes Publikum, in der Region und in der ganzen Welt.

Der Inhalt des Tonbandes berührt einen seltsam. Da beklagt ein Massenmörder Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Die US-geführte Koalition habe verbrannte Erde hinterlassen, was teilweise wohl stimmt. Der Wunsch, den "Brüdern", denen Unrecht geschieht, zu helfen, war das Hauptmotiv vieler IS-Zuläufer (zumindest gibt kaum einer zu, in den Jihad gezogen zu sein, um dort seine Gewaltfantasien auszuleben). Baghdadi versucht nun erneut mit dem "Unrecht", das ihm und seinen Anhängern angeblich geschehen ist, Menschen zu fangen – und Unentschlossene anderswo, die nur auf so einen Aufruf warten, zum Handeln zu bringen. Es ist noch lange nicht vorbei. Wenn Baghdadi noch lebt, sollte man seine Fähigkeit, seine Klientel zu mobilisieren, nicht unterschätzen. Und wenn er doch tot ist, wird es ein anderer für ihn tun. (Gudrun Harrer, 29.9.2017)