Höher, schneller, weiter: nicht auf dem Spielplatz. Geht es um die Bewegung ihrer Kinder, regiert bei vielen Eltern nämlich eine angstgetriebene Vermeidungshaltung.

Foto: Robert Newald

Ein ruhiger Sommertag in einem kleinen Gemeindekindergarten südlich von Graz. 21 Kinder flitzen durch den Bewegungsraum, klettern auf Sprossenwände, rutschen über Matten, spielen ausgelassen. Eine Betreuerin, sie ist eine erfahrene Pädagogin mit vielen Dienstjahren, beaufsichtigt die Mädchen und Buben. Doch sie ist allein mit ihnen im Raum – ihre Kollegin hat sich für diesen Tag krankgemeldet.

Dann passiert es: Ein fünfjähriges Mädchen will mit einem zweiten Kind über eine in die Sprossenwand eingehängte Langbank rutschen, als es abgleitet und aus sechzig Zentimetern Höhe auf den Mattenboden stürzt. Die Betreuerin steht nur zwei Meter von den Kindern entfernt, doch das Mädchen fällt unglücklich und bricht sich den Ellenbogen. Ein Unglück, das eben passieren kann – könnte man meinen.

Doch der Fall hat Folgen. Der Vater des Mädchens klagt die Pädagogin wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Er fordert 15.400 Euro Schadensersatz und dass der Kindergarten für sämtliche Spät- und Dauerfolgen aus dem Unfall haftet.

Während die erste Instanz in dem Sturz noch einen nicht zu vermeidenden Spielunfall sieht, teilt das Oberlandesgericht die Ansicht des Vaters: Die Kindergartenbetreuerin hätte den Mädchen beim Rutschen entweder die Hand halten oder ihnen das Rutschen überhaupt verbieten müssen, weil sie an diesem Tag allein war. Nun stimmte der Oberste Gerichtshof dem Oberlandesgericht zu: Die Eltern haben ein Recht auf Schadensersatz.

Nur kein Risiko

Seither beschäftigt der Fall nicht nur Expertinnen und Experten für Rechtsfragen. Er beschäftigt viele Menschen. Pädagoginnen und Pädagogen in Kinderbetreuungseinrichtungen zum Beispiel, Lehrerinnen und Lehrer. Und er beschäftigt Eltern von Kindern im Kindergarten- und Schulalter.

Denn über allem steht die Frage, was es für die Bewegungsfreiheit von Mädchen und Buben in Zukunft bedeuten könnte, wenn der Fall Schule macht. Wenn also Betreuungspersonen Angst haben müssen, verklagt zu werden, wenn sie fünfjährigen Kindern beim Rutschen nicht die Hand halten.

Die steirische Kinder- und Jugendanwältin Denise Schiffrer-Barac ortet eine "extrem bedenkliche Entwicklung" und warnt vor "amerikanischer Klagskultur" in Österreich. Durch den Fall könnten wichtige Entwicklungsfreiräume für alle Kinder verlorengehen. Denn das Betreuungspersonal reagiere auf Klagen dieser Art erfahrungsgemäß mit Furcht, Unsicherheit und Vermeidungsverhalten.

Eine Verunsicherung, die sich in weiterer Folge auf Eltern und Kinder übertrage. Am Ende stünden dann weniger freie Bewegung und damit weniger Entwicklungsmöglichkeiten für alle Kinder – aus "Sicherheitsgründen". Sicherheit auch für das Personal, das keine Klagen durch Eltern riskieren will.

Bewegungsmangel

Während manche Eltern heute Kindergärten klagen, klagen andere über den grassierenden Bewegungsmangel von Kindern und die damit verbundenen gesundheitlichen Folgen. Beispiel Schulweg: Im Jahr 1970 gingen noch 91 Prozent der Erstklässler ohne Erwachsene zu Fuß in die Schule. Im Jahr 2000 taten das gerade noch 17 Prozent.

Der Anteil jener Kinder, die von ihren Eltern tagtäglich mit dem Auto in die Schule kutschiert werden, wächst. Häufige Argumente der Eltern: Stress in der Früh und Sorge um die Sicherheit der Kinder. Dabei sind motorisierte Eltern längst selbst eine relevante Gefahrenquelle geworden: So zeigt die Statistik, dass heute mehr Kinder im Auto ihrer Eltern zu Schaden kommen als solche, die zu Fuß unterwegs sind.

"Eltern haben oft nur die kurzfristigen, nicht aber die langfristigen Risiken im Blick." Das schreibt Ingo Froböse, Leiter des Zentrums für Gesundheit durch Sport der Deutschen Sporthochschule Köln, in seinem gerade erschienenen Buch "Der kleine Sporticus". Wer um jeden Preis vermeiden wolle, dass sich sein Kind bei der Bewegung und beim Sport verletze, bewirke oft genau das Gegenteil: Denn je bewegungserfahrener Kinder sind, desto weniger unfallgefährdet sind sie auch.

Froböse: "Wir müssen zulassen, dass sich Kinder von klein auf bewegen und an ihre Grenzen heranwagen können." Das gehe eben nicht immer unfallfrei. Fallen lernt man durch Fallen – diese Erkenntnis scheint vielen Menschen irgendwann verlorengegangen zu sein.

"Realistische Selbsteinschätzung"

"Über Bewegung bekommen Kinder Vorstellungen über ihre körperlichen Stärken und individuellen Grenzen und gelangen so zu einer realistischen Selbsteinschätzung", sagt auch Kinderanwältin Schiffrer-Barac. "Pädagogen und Pädagoginnen übernehmen hier eine große Verantwortung in der Bildungsarbeit mit Kindern." Es sei aber unmöglich, sämtliche Gefahrenquellen zur Gänze auszuschließen und alle Unfälle zu vermeiden.

Das kann Eva Reznicek bestätigen. Sie ist stellvertretende Abteilungsleiterin der Wiener Magistratsabteilung 10, zuständig für Kindergärten. Auch Reznicek sagt, dass Fälle wie jener in der Steiermark das Kindergartenpersonal massiv verunsicherten. Bei den städtischen Kindergärten in Wien gibt es eine eigene Haftpflichtversicherung für diese Fälle, denn: "Unfälle sind nie völlig auszuschließen, wenn Kinder sich spielerisch bewegen – übrigens auch nicht bei Eins-zu-eins-Betreuung."

Man informiere die Eltern regelmäßig darüber, dass Bewegung im Kindergarten wichtig und immer mit einem gewissen Risiko verbunden sei. "Für die Betreuung gibt es aber genaue Richtlinien." So beträgt der gesetzlich vorgeschriebene Betreuungsschlüssel in Wiener Kindergärten maximal zwölf Kinder pro erwachsene Betreuungsperson.

Kindheit in der Gummizelle

Was aber tun, wenn eine Pädagogin kurzfristig ausfällt oder krank wird, wie es im steirischen Kindergarten der Fall war? Reznicek: "Dann hilft man innerhalb des Hauses aus, indem man Kinder etwa in andere Gruppen schickt." Notfalls komme Personal aus anderen Standorten. "Aber natürlich werden bestimmte Dinge, wie Ausflüge, nicht gemacht, wenn es die Betreuungssituation nicht zulässt." Ob die verurteilte Pädagogin in der Steiermark grob fahrlässig gehandelt habe, indem sie 21 Kinder allein im Bewegungsraum betreute, mag Reznicek "nicht beurteilen".

Natürlich: Selbst zwölf Kinder pro Betreuungsperson können zu viele sein. In Skandinavien schaut eine Pädagogin oder ein Pädagoge auf maximal sieben Kinder.

Und ein gebrochener Ellenbogen ist keine Bagatelle: Fast immer ist eine Operation nötig, gefolgt von mehrwöchigem Ruhigstellen. Je nachdem, wie sich die Knochenbruchstücke des Gelenks verschoben haben, sind bleibende Schäden häufig. Das wünscht niemand seinem Kind.

Und doch bleibt die Frage: Lässt sich so etwas wirklich vermeiden? Geht es ganz ohne Risiko? "Wir müssen zulassen, dass sich Kinder auch an ihre Grenzen heranwagen", schreibt Ingo Froböse. Eine Kindheit in der Gummizelle ist nicht möglich – und sie ist nicht sinnvoll.

"Kinder sollen nicht nur frühzeitig motorische und koordinative Fähigkeiten erlernen", sagt Stefan Herker, Präsident der Sportunion Steiermark. "Sie brauchen für ihre persönliche Entwicklung auch körperliche Erfahrungen." Dieses Fordern und Fördern gelinge aber nicht an der Hand einer Kindergartenpädagogin. Mit Sicherheit nicht. (Lisa Mayr, 30.9.2017)