Ein Ohrenschutz, so viel steht fest, ist keine Gesichtsverhüllung. Das sind schon einmal gute Nachrichten für den kommenden Winter. Was die bereits angebrochene politische Heizperiode betrifft, eignen sich natürlich Ganzkörperhauben vorzüglich für schnelle Erwärmung. Rauchen ist auch ein ganz gutes Thema, aber ungesünder als Gemüse oder Peitschenhiebe. Hugh Hefner, er hätte Freude an der Erregung.

Foto: Felix Borat Grütsch, https://derStandard.at/Gruetsch

Der Direktor des Grazer Pestalozzi-Gymnasiums, das ich ab 1964 besuchte, hatte seine eigene Vorstellung von Schicklichkeit, die seine Schüler zur Schau zu stellen hatten. In den Pausen waren die Schüler angehalten, den Schulgang auf und ab zu gehen, was, immer dann, wenn Herr Hofrat N. zur Patrouille erschien, auch alle taten. Missfiel N. einer der Schüler, dirigierte er ihn aus der Kolonne heraus, richtete seinen Zeigefinger auf den Tatverdächtigen und verkündete: "Zahlst mir einen Schilling dafür."

Für einen Schilling bekam man damals drei Tschick der Marke Austria 3, die Strafzahlung hatte also bei den betroffenen Schülern gesundheitsfördernde Wirkung. Was N. missbilligte, waren Haupthaare, die über die Kante der Knabenohren hinunterhingen. Das Anti-Ohrenverhüllungsgebot hieß nicht so, hätte N. die Chance gehabt, es in Gesetzesform zu fassen, wäre für ihn wohl ein Traum in Erfüllung gegangen. Was waren die Folgen des moralischen Kreuzzugs eines stockkonservativen Schuldiktators? Die Haare aller Pestalozzianer waren kürzer als die der anderen Schüler der Stadt. Ein voller Erfolg also?

AGesVG, BGBl. 68/2017

Dieser Tage musste ich an diese Episode denken, als ich vom Inkrafttreten des "Anti-Gesichtsverhüllungsgesetzes (AGesVG) – BGBl. 68/2017" Kenntnis bekam. Wie bei Gesetzeswerken üblich, gibt der Initiant, diesfalls das Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres, seine Absichten in den Erläuterungen bekannt: "Die Ermöglichung zwischenmenschlicher Kommunikation ist eine wesentliche Funktionsbedingung für ein friedliches Zusammenleben in einem demokratischen Rechtsstaat. Für Kommunikation bildet das Erkennen des Anderen bzw. dessen Gesichts eine notwendige Voraussetzung."

Die Vollziehung des Gesetzes ist Sache der Polizei, und die neue Generaldirektorin der öffentlichen Sicherheit, Michaela Kardeis, war bei einer Pressekonferenz dazu genötigt, wider besseren Wissens zu behaupten, dass die ihr unterstellten Polizisten nun auch noch "für soziale Interaktion, für zwischenmenschliche Kommunikation" zuständig sind.

Diese gewundenen Begründungen des tatsächlich gegen Burka, Nikab gerichteten Verhüllungsverbots, das nun auch das Tragen von Sturmhauben und medizinischem Mundschutz verbietet, sind ein völliger Blödsinn. Der Rechtsstaat kommt ganz gut ohne Kommunikation aus und benötigt zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung keineswegs unverhüllte Gesichter. Indem ich das auf diesem Weg dem Integrationsminister mitteile, kommuniziere ich mit ihm, ohne deswegen sein unverhülltes Gesicht sehen zu müssen oder ihm meines zu präsentieren.

Dem Rechtsstaat sollte es herzlich gleichgültig sein, wer im öffentlichen Raum welchen Bekleidungs- und Verhüllungsmoden folgt, und wir Benutzer des öffentlichen Raums kommen dort dank dessen, was in der Soziologie "höfliche Gleichgültigkeit" genannt wird, ganz gut miteinander aus. Als unhöflich gilt es, anderen Passanten ins Gesicht zu schauen. Indem wir unbekannte andere eben nicht anstarren, sichern wir tagtäglich das friedliche Zusammenleben.

Moralunternehmer

Den Antigesichtsverhüllungsgesetzesmachern geht es aber weder um das friedliche Zusammenleben noch um die Sicherung der Kommunikation, sondern wie meinem seligen Gymnasialdirektor, dem Herrn Hofrat N., allein darum, sich als Moralunternehmer zu gerieren. Moralunternehmer greifen einen empörungsfähigen Aspekt eines sozialen Problems auf und dramatisieren diesen, am liebsten durch den Ruf nach Verboten.

Dabei kommt es stets zu gehörigen Portionen von Heuchelei. Nikab-Trägerinnen aus arabischen Staaten sind jene, die gegen dieses Gesetz verstoßen werden. Doch warum erteilen die Auslandsvertretungen des Ministeriums, dem der Erfinder des Antigesichtsverhüllungsverbots vorsteht, diesen Personen Visa, um ihnen dann beim Shoppen ein Flugblatt in die Hand zu drücken, das sie belehrt, dass sie bitte ans friedliche Zusammenleben denken mögen und deswegen ihr Gesicht dem Erkennen preiszugeben hätten. Andernfalls müssen sie leider neben der Rechnung auch noch ein Organstrafmandat begleichen. Kreditkarte wird akzeptiert.

Die paar "in Österreich aufhältigen Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft" (so gewunden formulieren die Ministerialen, wenn sie Ausländer meinen), die bislang in ihren Stoffgefängnissen (Copyright Ulrike Lunacek, Spitzenkandidatin der Grünen) zwar unser friedliches Zusammenleben nicht störten, aber unfreiwillig Anlässe zu Empörung liefern, werden, sind sie doch weniger wohlhabend als die Touristinnen, "zum Wohle der gesamten Gesellschaft" zu Hause bleiben.

Ob das eine integrationsfördernde Idee oder gar eine Maßnahme der Frauenemanzipation ist, braucht man nicht einmal dahingestellt lassen.

Das Antigesichtsverhüllungsgesetz löst kein Problem, es schafft nur neue. Ganz so wie der Direktor meines Gymnasiums zum Gespött aller Schüler wurde, macht sich ein Staat, dessen Sicherheitskräfte Strafmandate für missliebige Bekleidung ausstellen, lächerlich.

Anachronistische Kopfkleider

Um nicht missverstanden zu werden: Ich finde die angeblich religiös, tatsächlich patriarchal begründeten Kleidungsvorschriften anachronistisch, zweifle allerdings, dass der Emanzipation der Verhüllten geholfen wird, wenn die Polizei ihr Kopfkleid als Verwaltungsvergehen behandelt. Sinnfreie und zwecklose Gesetze nagen am Fundament des Rechtssystems. Das Antigesichtsverhüllungsgesetz wurde ja nur beschlossen, um den Eindruck entstehen zu lassen, die Politik tue was. Tatsächlich werden Polizisten ab heute gezwungen, Flugblätter zu verteilen und das Inkasso einer Touristinnenabgabe zu übernehmen.

Kein Problem gelöst

Ich bezweifle, dass auch nur einer der Fürsprecher dieses Gesetzes ernsthaft glaubt, im Fall des völligen Verschwindens von Burka und Nikab aus der österreichischen Öffentlichkeit sei auch nur ein einziges Problem gelöst worden. (Christian Fleck, 29.9.2017)