Herausgelöst aus ihrem Kontext – Raffaels "Transfiguration", also seiner Darstellung der Verklärung Christi – darf man diese Apostel in der Albertina betrachten.

Foto: Ashmolean Museum, University of Oxford

Ein Selbstporträt Raffaels von 1506.

Foto: Galleria degli Uffizi, Florenz, Gabinetto Fotografico delle Gallerie degli Uffizi

Raffaels "Die Cumäische Sibylle" (Studie für das Sibyllenfresko, Santa Maria della Pace, Rom) von 1511.

Foto: Albertina, Wien

Wien – Manche Dinge im Leben weiß man, doch sind sie einem nicht bewusst. Dass da ein Unterschied besteht, merkt man spätestens an der Erschütterung, mit der solche Dinge sich vergegenwärtigen. Dass zum Beispiel der Renaissancemaler Raffael einer der größten Künstler des Abendlandes war: ja eh, Allgemeinwissen. Und doch wird es einen wieder einmal umhauen, wenn man nun die ihm gewidmete Ausstellung der Albertina betritt.

Raffael ist vermutlich eine der reichhaltigsten und süffigsten Schauen, die man in der nächsten Zeit in unserer Gegend zu sehen bekommen wird. Und das liegt nicht an den Bildern des italienischen Meisters allein, an diesen ungemein präzisen, aufs Äußerste ausgetüftelten Bildfindungen. Es liegt auch an der Präsentation, die Achim Gnann kuratierte: Zu sehen sind unter 150 Arbeiten, darunter etliche internationale Leihgaben, nicht nur Gemälde. Ein Schwerpunkt liegt auf Raffaels Zeichnungen, seinen spontanen Skizzen und akribischen Detailstudien. Blätter, die Raffael nicht als autonome Kunstwerke ansah, sondern die ihm stets Mittel zum Zweck, nämlich ein Weg zum gemalten Bild waren.

Nicht nur an Studien für Gesichtsausdrücke und Figurenkompositionen, sondern auch an solchen für Schatten- und Faltenwürfe folgt man dem Strich des Meisters, der kein Detail dem Zufall überließ. Zugleich gewinnt man aber auch Einblick in die Entstehung der Sujets, erfährt etwa, dass sein Bethlehemitischer Kindermord aus einer Studie für das Urteil des Salomo hervorging.

Von Umbrien über Florenz zum Papst

Die Schau beginnt bei Raffaels umbrischer Zeit und führt über seine Jahre in Florenz, seine Fresken für die Gemächer Papst Julius II. bis hin zu seinen vielfältigen Auftragsarbeiten aber auch für weltliche Mäzene.

Am Ende steht seine Transfiguration, entstanden 1516/20. Diesem letzten Tafelbild, das Raffael vollendete, nähert man sich in Kopf- und Handstudien für die Apostel, die in Anbetracht des ihnen verklärt sich offenbarenden Christus hin- und hergerissen sind zwischen Verzückung, Schrecken und Demut.

Zu sehen ist aber auch ein Vorentwurf, der die Transfiguration in Akten zeigt, wiewohl in der finalen Version Bekleidete zu sehen sind. Tatsächlich war die präzise Studie am menschlichen Körper wesentlich für Raffaels Schaffensprozess. Dieser Blick auf den Menschen, den er von Michelangelo gelernt hatte und den er so virtuos mit einem zweiten großen Einfluss zu verbinden verstand: dem psychologisierenden Verständnis Leonardo da Vincis.

Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht insbesondere auch Raffaels Madonnenbilder, die ihn zeitlebens umtrieben. Zugleich überhöht und dem ganz und gar Menschlichen verbunden sind seine Darstellungen des "Deus ludens", also des "spielenden Gottes": Gleichsam seine göttliche Abkunft vergessend, spielt das Jesuskind etwa in einer Darstellung der Madonna mit dem Granatapfel mit ebendiesem Symbol der Passion, langt in einem anderen Bild der Mutter ans Dekolleté.

Mutter-Kind-Psychologie

In vielen Nuancen und vielfach auf ein Reich jenseits theologischer Deutung verweisend, näherte sich Raffael einer geradezu modern anmutenden Mutter-Kind-Psychologie. Und es ist ganz allgemein diese Autonomie der Figuren, die einen in der Albertina bestrickt. Dank der beigefügten Studien, worin die Körper häufig herausgelöst aus ihren mythologischen Szenen erscheinen, kommt dieses Eigenleben noch stärker zu Bewusstsein.

Wie meisterhaft Raffael für die Renaissance die Darstellung des Natürlichen mit dem idealisierenden Blick verband, mag sich im übrigen an jenem Spruch zeigen, der sein Grab zierte, als der Meister anno 1520, erst 37-jährig, starb: "Dieser hier ist Raffael, von dem die große Mutter der Dinge (die Natur, Anm.) fürchtete übertroffen zu werden, solange er lebte, und mit ihm zu sterben, als er starb." (Roman Gerold, 29.9.2017)