Nach und nach eröffnet der neue Intendant Chris Dercon seine Berliner Volksbühne. Teil zwei des Reigens war ein Erzählabend mit Überkopfübersetzung in Tempelhof.

Gianmarco Bresadola

Theater als blutige Opferzeremonie! Damit die Griechen den zehnjährigen Krieg gegen Troja beginnen und gewinnen, muss der Heerführer Agamemnon seine eigene Tochter Iphigenie schlachten. In einer ehemaligen Flugzeughalle des Flughafens Tempelhof bildet Euripides' Tragödie Iphigenie auf Aulis den Hintergrund für ein Projekt des syrischen Dramatikers Mohammad al-Attar. Mit ihm hat die neue Berliner Volksbühne unter Chris Dercon ihre Schauspielsaison eröffnet. Im Libanon und in Jordanien hatte al-Attar – auch hier gemeinsam mit dem Regisseur Omar Abusaada – bereits Die Trojanerinnen und Antigone erarbeitet.

Die Tragödie des Euripides kommt allerdings, sieht man von drei deklamierten Monologen und einigen auf eine Leinwand projizierten Zitaten ab, nicht weiter vor. Al-Attars Iphigenie ist lediglich ein schlichtes Casting-Projekt: Neun in Berlin und Leipzig lebende junge Syrerinnen bewerben sich um diese Rolle. Sie wollen alle auf der Bühne Iphigenie sein. Ist es Selbstmord oder Märtyrertum, was Iphigenie bewegt, werden sie von der Casterin (Reham Alkassar) gefragt.

Projektionen ohne Bühnenbild

Gesprochen wird Arabisch, wobei diese Gespräche auch noch auf Deutsch auf eine große Leinwand projiziert werden, sonst gibt es kein Bühnenbild. Alle Fragen beim Bewerbungsgespräch sind ziemlich allgemein: wie sich Theater und Wirklichkeit unterscheiden, welche "Theaterrolle" man im Leben spiele, wie man zur Familie und Herkunft steht? Nur selten gibt es Probleme: Eine junge, kopftuchtragende Bewerberin wird gefragt, ob sie, wenn es der Regisseur verlangen würde, Achill auch küssen werde oder ob sie in diesem Fall nicht mehr Iphigenie sein wolle.

Man soll die Aufführung nicht auf die Flüchtlingsthematik verkürzen, beteuerte al-Attar öfter, und auch die Frauen wollen nicht so wahrgenommen werden. Kriegsgräuel kommen bestenfalls am Rande vor. Alle Bewerberinnen haben Hochschulabschluss, wirken im künstlerischen Bereich oder im Marketing oder studieren, sind insofern sicherlich kein repräsentativer Querschnitt. Wer die Rolle nun tatsächlich bekommen sollte, erfährt man nicht, und schon gar nicht wagt man sich an die Obszönität eines harten Rankings der einzelnen Laiendarstellerinnen. Alle soll man wohl gleich sympathisch finden.

Gut durchgeprobt

Doch da die Performance mit den Bewerberinnen gut durchgeprobt ist, zweifelt man schnell an der ausgestellten Authentizität der Auftritte, und grübelt, ob die Texte der Bewerberinnen nicht doch ziemlich stark von Mohammad al-Attar in poetische Bilder oder psychologische Selbstdeutungen gefasst und literarisiert frisiert worden sind. Bei vergleichbaren Projekten hat das Maxim-Gorki-Theater – etwa mit Stücken Yael Ronens – Maßstäbe gesetzt und gespielte Authentizität raffinierter theatralisch gebrochen.

Iphigenie ist von mehreren Kulturstiftungen gesponsert worden. Die Volksbühne scheint nun gut vernetzt. Ebenso interessiert die Produktion sicherlich auch neues, vielleicht sonst theaterfremdes Publikum. Doch ein Statement für eine neue Dramaturgie dieses Berliner Theaters – dessen Haupthaus am Rosa-Luxemburg-Platz ja erst im November eröffnet wird – ist diese Iphigenie hoffentlich nicht. Denn mehr als nettes, gefälliges Bürgertheater sollte man sich schon von der neuen Volksbühne erwarten dürfen! (Bernhard Doppler aus Berlin, 2.10.2017)