Liebe und innere Emigration: Milad Alamis "The Chaser" erzählt von einem Iraner in Kopenhagen.

Foto: Filmfestival San Sebastián

Filme von Wim Wenders sind stets auch Reflexionen über das Kino. Sie betrachten das Sehen und Wahrnehmen, denken über unser Verhältnis zum Bild und über das Bildermachen nach. Was sieht man in der Tiefe der Ozeane? Auf welche Lebensformen trifft man in der ewigen Dunkelheit? Diese Fragen beschäftigen die Biomathematikerin Danielle Flanders (Alicia Vikander) in Submergence, dem Eröffnungsfilm des Filmfestivals von San Sebastián. Ein programmatischer Titel – schließlich geht man ins Kino, um ein- oder abzutauchen.

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Das Liebespaar aus Wenders' romantischem Thriller mit Aktualitätsanspruch hinterlässt jedoch eine seltsame Gleichgültigkeit. Sie, eine Aktivistin in Sachen Klimawandel, und er, James Moore (James McAvoy), ein Undercoveragent, der ein Ausbildungszentrum von Terroristen ausfindig machen soll, entdecken ihre Gefühle füreinander in einem Luxushotel an der französischen Atlantikküste. Die Kamera erfreut sich am edlen Setting, gleitet über flackernde Kamine und Champagnerflaschen auf Nachttischen.

Ebenso dekorativ und stereotyp wird das Paar in Szene gesetzt. Sie muss die Brille aufsetzen, sobald es um wissenschaftliche Fragen geht. Er darf beim Sport Muskeln zur Schau stellen. Es ist diese gestylte Werbefotografie, die den Film in ein dramaturgisches Niemandsland katapultiert. Wenn Danielle es trotz kalten Wetters nicht lassen kann, sich mit BH und Slip in die Wellen zu stürzen, bekommt man nur deshalb eine Gänsehaut, weil hier allzu penetrant ungestüme Naturverbundenheit ausgestellt wird.

Sprung ins Wasser

Viel lieber springt man mit dem Helden des Regiedebüts The Charmer ins Wasser, und zwar so metaphorisch wie konkret. Esmael kommt aus dem Iran und arbeitet in Kopenhagen als Möbelpacker. Abends zieht er seinen Anzug an und sucht Bars auf, um eine Frau zu finden, die ihm zu einer Aufenthaltserlaubnis verhelfen soll.

Milad Alami inszeniert diese Suche, die die Sektion "New Directors" eröffnete, als inneres Drama, das gegenwärtige Fragen aufwirft: Warum hat der junge Mann sein Land verlassen? Wem schickt er sein Geld? Warum fühlen sich die weiblichen Bekanntschaften von seiner ruhigen Art so angezogen? Esmael begegnet einer Iranerin, die in Dänemark aufgewachsen ist. Die beiden entdecken ihre Seelenverwandtschaft. Doch warum kämpft er gegen seine Zuneigung an?

Es sind solche Fragen, Rätsel, Auslassungen, mit denen dieser präzise inszenierte Film Empathie für einen Mann erzeugt, der Gefangener einer auch inneren Emigration ist. Einmal, nachdem Esmael eine Villa leergeräumt hat, gönnt er sich ein Bad im Pool. Plötzlich scheinen alle Sorgen von ihm abzufallen. Ein Mensch, der einen Film hindurch neben sich steht, ist ganz bei sich.

Vielfältige Abhängigkeiten

Dass Bilder ihre Schauwerte entwickeln können, indem sie den Zuschauer mit anderen Augen auf die Welt blicken lassen, beweist auch Soldiers – Story from Ferentari von Ivana Mladenovic. Die Regisseurin macht diesen Blick zum eigentlichen Thema. Für seine Studien begibt sich der Anthropologe Adi nach Ferentari, in ein am äußeren Rand von Bukarest gelegenes Stadtviertel, in dem sich Roma und Mafiosi niedergelassen haben. Adi interessiert sich für den Musikstil Manele.

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Zutritt zur Community verschafft er sich über den Exhäftling Alfredo. Der Roma lässt sich dafür mit Zigaretten und Bier bezahlen. Es entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis in mehrfacher Hinsicht, denn die beiden Männer fühlen sich zueinander hingezogen. Fast dokumentarisch begleitet die Kamera die zarte Annäherung der beiden, begleitet sie bei ihren Streifzügen durch Ferentari. Mit Adi blickt man auf einen Mann, der ihm immer vertrauter wird, dessen Umgebung ihm jedoch fremd bleibt.

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Die Jury unter Vorsitz des Schauspielers John Malkovich blieb mit ihrer Entscheidung lieber in der eigenen Welt. Ausgezeichnet mit der Golden Shell wurde die unterhaltsame Filmsatire The Disaster Artist von und mit James Franco. Dem Zuschauer wird Einblick in die Entstehungsgeschichte von The Room, einem der schlechtesten Filme aller Zeiten, gewährt, doch der Erkenntnisgewinn hält sich in Grenzen. (Anke Leweke aus San Sebastián, 2.10.2017)