Slut-Walk in Jerusalem, Israel, im Juni 2017. Weltweit wird seit Jahren mit den "Schlampenmärschen" gegen die Täter-Opfer-Umkehr bei Gewaltdelikten protestiert.

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Obwohl Österreich vielen Ländern als Vorbild im Gewaltschutz gilt, gibt es nach Einschätzung von Expertinnen noch reichlich Arbeit. Vergangene Woche präsentierte das Europarat-Expertinnengremium "Grevio" (Group of Experts on Action against Violence against Women) eine Evaluierung über den Status quo in Österreich bei der Umsetzung der Istanbulkonvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, die Österreich 2013 ratifiziert und sich somit zur Prävention, zum Schutz der Opfer und zu einer wirksamen Strafverfolgung verpflichtet hat. Ergänzend zu dieser Außenperspektive des Grevio-Prüfberichts lud das Europarat-Komitee österreichische NGOs zu einer Einschätzung ein. Dieser Schattenbericht wurde am Montag von "Gewaltfrei leben", einer Allianz aus 30 NGOs, vorgestellt.

Über die bestehenden Lücken im Gewaltschutz sind sich beide Berichte einig. Eine bessere Risikoeinschätzung lautet eine Forderung. Schätzungen zufolge sterben in Österreich 20 bis 25 Frauen durch ihre Partner, Expartner oder anderer Familienmitglieder. "Die Strafjustiz nimmt dieses Thema noch immer nicht ernst genug", sagt Kerstin Schinnerl von der Wiener Interventionsstelle bei der Präsentation des Schattenberichts. Zu oft gebe es nur Freifußanzeigen und viel zu selten U-Haft, kritisiert sie.

Wohlwollend, trotzdem Sexismus

Einen wesentlichen Ansatzpunkt sieht das Europarat-Komitee auch in der Ausbildung der Richterinnen und Richter sowie der Staatsanwältinnen- und Anwälte zu den Themen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Viele Frauen befürchten noch immer, im Zuge von Prozessen selbst die Schuld an Gewaltdelikten, insbesondere bei sexualisierter Gewalt, zugeschoben zu bekommen. Dass in solchen Fällen Aussage gegen Aussage steht, ist für Ursula Kussyk vom "Verein Notruf. Beratung für vergewaltigte Frauen" ein Grund für die niedrigen Anzeigen- und Verurteilungsraten bei Sexualdelikten.

Ein weiterer läge in einem "alles beherrschenden Sexismus", der Phänomene wie "victim blaming", also eine Täter-Opfer-Umkehr, befeuere und Gewaltopfer vor Anzeigen zurückschrecken ließe. Dazu gehöre auch "wohlwollender Sexismus", wie die besondere Betonung der sexuellen Attraktivität einer Frau. Von einer "Verführerin" sei der Weg zur "Schlampe" dann nicht mehr weit.

Frauenspezifische Fluchtgründe

Weitere zentrale Forderungen des Komitees und der Allianz "Gewaltfrei leben" betreffen den Gewaltschutz für alle Frauen, unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel. "Frauen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus haben oft Angst vor Behörden und nehmen auch Angebote von Beratungseinrichtungen weniger in Anspruch", sagt Marie Möller von der Rechtsberatung der Caritas Wien. Auch müssten bei Asylverfahren dringend frauenspezifische Fluchtgründe berücksichtigt werden.

Positiv hebt der Grevio-Bericht das "langjährige politische Engagement zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen hervor. Österreich habe in den vergangenen 20 Jahren bei der Einführung und Weiterentwicklung eines Betretungsverbots (Wegweisung) für Täter häuslicher Gewalt eine Vorbildfunktion übernommen und auch die juristische und psychosoziale Prozessbegleitung für Opfer von Gewalt möglich gemacht. (Beate Hausbichler, 3.10.2017)