"Neue Gedanken für gesunde Reformprozesse: Das wäre das Beste, was den Teilnehmern in Gastein passieren kann", sagt Clemens Martin Auer, Präsident des European Health Forum Gastein.

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Mit dem Generalthema "Health in All Politics " will Auer ein Zeichen gegen die Angst vor Krankheit, für Solidarität in der Gesellschaft und ein frisches, fächerübergreifendes Denken zum Wohle der Menschen setzen.

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STANDARD: Das European Health Forum Gastein findet erstmalig unter Ihrem Vorsitz statt. Was ist geplant?

Martin Auer: Gastein soll noch stärker als bisher ein Marktplatz für neue gesundheitspolitische Ideen sein. Ich bin ein Mann aus der Praxis, quasi ein Handwerker der Gesundheitspolitik. Ich weiß, was Systeme treibt, kenne die Reformnotwendigkeit. Die Stärke dieses Forums ist unter anderem auch der Austausch mit der Akademia. Es wäre wunderbar, wenn es uns gelänge, gemeinsam mit Wissenschaftern tragfähige Lösungen zu entwickeln, die auch realistisch umsetzbar sind. Gastein als Ideenschmiede für die europäische Gesundheitspolitik sozusagen.

STANDARD: Europa ist sehr vielfältig. Was sind die Gemeinsamkeiten?

Auer: In allen EU-Mitgliedsländern ist die Gesundheitsversorgung nach dem Solidarprinzip geregelt. Wer in Europa krank wird, muss keine sozioökonomischen Ängste haben. Das ist ein grundlegender Unterschied etwa zu den USA. Keine Angst vor Krankheit haben zu müssen ist ein Zeichen großer Freiheit. "Health is wealth", sagen wir Gesundheitspolitiker. Der Gesundheitszustand einer Bevölkerung ist Spiegel für den Wohlstand einer Gesellschaft.

STANDARD: Wie stark muss dieses Grundprinzip verteidigt werden?

Auer: Das Solidarprinzip ist immer herausgefordert, weil die Gesundheitspolitik ja ständig den Beweis erbringen muss, dass das Versorgungssystem kosteneffizient arbeitet. Die großen Kritiker sind immer die Vertreter der Marktwirtschaft, die behaupten, dass Gesundheitssysteme zu teuer seien. Dabei gibt es eindeutig Beweise, dass marktwirtschaftliche Strukturen nie kostengünstiger sind. Das beste Beispiel ist Amerikas Gesundheitssystem: Es ist wesentlich teurer und weniger effizient in der Versorgung, was die Kosten betrifft.

STANDARD: Was ist die Herausforderung?

Auer: Gesundheitspolitik besteht nur zu einem Teil aus der Krankenversorgung, also dem kurativen Bereich. Immer wichtiger wird die Vermeidung von Krankheit, die Prävention. Das gilt es, gemeinsam zu denken. Ausgaben für Gesundheit sind Investitionen in den Gesamtwohlstand, das wird von neoliberalen Theoretikern immer wieder angezweifelt. Sie sehen Gesundheit als reinen Kostenfaktor.

STANDARD: Was sind die Richtwerte für ein effizientes Gesundheitssystem?

Auer: Wenn zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitssystem aufgewendet werden und dieser Wert stabil ist, ist es ein Zeichen für Effizienz. In den USA ist das nicht der Fall.

STANDARD: Schaffen das alle EU-Länder?

Auer: In den ehemals sozialistischen Ländern wurde die Gesundheit ja ebenfalls solidarisch finanziert. Danach gab es ein paar marktwirtschaftliche Experimente, die bald bereut wurden. Mittlerweile fahren alle den gemeinsamen Kurs, und ja, wir beobachten eindeutig eine Angleichung.

STANDARD: Ein generelles Problem der Gesundheitspolitik ist aber doch die Tatsache, dass viele gesundheitsrelevante Entscheidungen von Politikern aus anderen Fachbereichen getroffen werden. Wie damit umgehen?

Auer: Da geht es um Prävention und die Tatsache, dass wir als Gesundheitspolitiker diesen Gedanken bei unseren Konterparts in anderen politischen Bereichen mit Nachdruck einmahnen. Es ist sozusagen unsere verdammte Pflicht. Deshalb ist diese Debatte um "Health in All Policies" ja auch so entscheidend und das Generalthema in Gastein.

STANDARD: Auch Ernährung ist ein großes Thema.

Auer: Genau, Umwelt und Ernährung sind zentrale Bereiche. Wir Gesundheitspolitiker mahnen seit Jahren, dass die Menschen zu viel Zucker, zu viel Salz, zu viel ungesättigte Fette zu sich nehmen. Wir haben auch die Beweise dafür, doch die Nahrungsmittelindustrie fällt nicht in unseren Zuständigkeitsbereich, sondern wird als Teil der Wirtschaft betrachtet. Dort haben wir keinerlei Einfluss, sitzen nicht am Verhandlungstisch, wenn es um etwaige gesetzliche Regelungen geht. Wir haben keinen Einfluss, müssen aber dann mit der durch die Massentierhaltung mitverursachte Antibiotikaresistenz fertig werden. Die gute Nachricht: In den letzten zehn Jahren hat sich ein Bewusstsein dafür gebildet, dass Gesundheitspolitik Querschnittsmaterie ist.

STANDARD: Und redet die österreichische Gesundheitsministerin mit dem Wirtschaftsminister zum Beispiel bezüglich schädlicher Nahrungsmittel?

Auer: Nein. Auch der EU-Kommissar für Gesundheit und Konsumentenschutz hat derzeit noch wenige Möglichkeiten, in den Diskurs bezüglich industriepolitischer Fragen Einfluss zu nehmen. Solche Ideen und Strategien brauchen wir aber. Aktuell wird "Health in All Policies" vor allem in der Kommunalpolitik umgesetzt. Es gibt vorbildliche Stadtpolitiker in Kopenhagen und Udine zum Beispiel. Dort findet wirkliche Pionierarbeit statt.

STANDARD: Doch viele Weichen werden auf globaler Ebene gestellt, etwa Freihandelsabkommen, die erwiesenermaßen wenig gesundheitsförderlich sind.

Auer: Ich denke, da muss man differenzieren. Freihandelsabkommen haben in vielen Bereichen der Gesellschaft einen Einfluss. Der Freihandel per se ist aber nicht das Problem, sondern das Regelwerk dahinter. Deshalb ginge es darum, im Vorfeld auch die sozialen Kosten zu berechnen und sich dann anzusehen, in welchen Bereichen so etwas dann schlagend wird. Etwa in der Gesundheit, wenn eine Verschlechterung der Lebensmittelqualität damit einhergeht. Das finanzielle Interesse einzelner Produzenten am Weltmarkt sollte jedenfalls nicht eine ganze Gesellschaft beeinflussen. In solchen Entscheidungen sollten auch Sozial- und Gesundheitspolitiker in der westlichen Welt ein Mitspracherecht haben. Die Freiheit des Wettbewerbs hat Auswirkungen auf die Beschäftigungspolitik, insofern auch auf die Sozialkosten und letztlich auf das Pensionssystem.

STANDARD: Was kann die Rolle der EU in der Gesundheitspolitik sein?

Auer: Gesundheitspolitik ist Nationalangelegenheit, so ist es in der EU-Verfassung geregelt. Nichtsdestotrotz stehen alle EU-Länder vor ähnlichen Herausforderungen. Wir leben in einer alternden Bevölkerung, auch Ärzte und Pflegende gehören in diese Gruppe, deshalb müssen wir über neue interdisziplinäre Ausbildungssysteme nachdenken. Italien ist hier sicherlich ein Vorreiterland. Dort beginnt man sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung zu orientieren und setzt Akzente in der Primärversorgung.

STANDARD: Was ist daran ein Problem?

Auer: Wir haben zu viele Spezialisten. Das ist zwar an sich gut, wir brauchen aber auch die Generalisten, weil sie für die Menschen der erste Anlaufpunkt im System sind. Dort ließen sich viele Probleme abfangen. Ich denke, dass wir hier an neuen Modellen arbeiten müssen.

STANDARD: Ein Knackpunkt sind auch die Medikamentenpreise, wenn es um neue Therapien geht. Gibt es da einen Plan?

Auer: Die hochpreisigen Medikamente sind tatsächlich ein Problem, denn sie gefährden das Gleichheitsprinzip des solidarisch finanzierten Gesundheitssystems. Schließlich soll jeder ein neues Arzneimittel bekommen. Das sprengt aber alle Budgets.

STANDARD: Was tun?

Auer: Wir müssen das Problem analysieren und über Preisbildungsmechanismen ganz grundsätzlich nachdenken. Das irritiert natürlich die Pharmaindustrie, die schnell von Bashing spricht und ihrerseits der Gesundheitspolitik ausrichtet, es gäbe keine Probleme, und das Ganze auf die Finanzierungsbereitschaft von Innovation reduziert. Doch bei vielen Medikamentenentwicklungen ist ja auch die öffentliche Hand beteiligt. Insofern: Ich denke, da gibt es Asymmetrien und Intransparenz. Da dränge ich auf eine Diskussion mit der Industrie. In der Konfrontation liegt immer auch viel Kreativität. Es geht schließlich darum, die Versorgung der Menschen sicherzustellen.

STANDARD: Oft droht die Pharmaindustrie damit, sich aus den EU-Märkten zurückzuziehen.

Auer: Da bin ich gelassen. Pharmaunternehmen haben Shareholder. Europa ist ein lukrativer Markt. Solche Maßnahmen würden die Gewinne schmälern. Solche Drohungen finde ich wirklich zutiefst unethisch.

STANDARD: Ist Digitalisierung eine Chance?

Auer: Klar ja. E-Health hat, anders als in anderen wirtschaftlichen Bereichen, das Potenzial, die Versorgung von Patienten zu verbessern. Dass die Digitalisierung Arbeitsplätze kostet, ist im Gesundheitsbereich eher nicht zu erwarten. Ein großes Ziel lautet, die IT-Systeme innerhalb der EU kompatibel zu machen, um damit die Behandlung besser zu machen.

STANDARD: Mit welchen Erkenntnissen sollten die Teilnehmer des EHFG nach Hause fahren?

Auer: In jedem Land laufen Reformprozesse im Gesundheitssystem. Am Europäischen Health Forum Gastein kommen jene Menschen zusammen, die intensiv damit befasst sind. In hochkarätiger Runde zu diskutieren kann dazu beitragen, Strategien zu bestätigen oder sich Anregungen für neue Wege zu holen. Neue Gedanken für gesunde Reformprozesse: Das wäre das Beste, was den Teilnehmern in Gastein passieren kann. (Karin Pollack, 4.10.2017)