Der italienische Wirtschaftswissenschafter Giacomo Corneo hält einige Argumente der Kapitalismuskritik durchaus für berechtigt. Sie bleibe aber "steril, wenn sie nicht in der Lage ist, glaubwürdige Alternativen aufzuzeigen" – genau da will er ansetzen.

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STANDARD: Sie sind anlässlich der Club-Research-Veranstaltung zur Frage "Ist ökonomische Ungleichheit ein Naturgesetz?" in Wien wie lautet Ihre Antwort darauf?

Corneo: Ökonomische Ungleichheiten sind in der Ungleichheitsforschung keine reinen Unterschiede, vielmehr geht es um die Verteilung von bestimmten Vorteilen innerhalb einer Gesellschaft. Die Frage ist, welche sind die relevanten Vorteile. Das sind keine Naturgesetze: Das Gemeinwesen hat immer die Möglichkeit, den Umfang der Ungleichheit durch entsprechende Maßnahmen zu beeinflussen.

STANDARD: Woran liegt es, dass die Kluft zwischen Arm und Reich sich dennoch immer mehr vergrößert?

Corneo: Ich glaube, dass in einigen Ländern – trotz formaler Demokratie – die politischen Entscheidungen faktisch eher von einer Elite getroffen werden, die andere Interessen als die Bevölkerungsmehrheit hat. In diesen Ländern, beispielsweise in den USA, wird daher durchaus weniger unternommen, um den sozialen Zusammenhalt und die soziale Teilhabe zu fördern.

STANDARD: Wird in Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland oder Österreich genug gegen ökonomische Ungleichheit unternommen?

Corneo: In Deutschland oder Österreich wird sicherlich mehr unternommen als in den USA, es gibt aber in beiden Ländern Spielräume, die nicht ausgenutzt werden. Man muss dabei ehrlich sein und unterstreichen, dass einige Maßnahmen eine Umverteilung mit sich bringen. Denn oft wird es unvermeidlich sein, dass einige Teile der Bevölkerung unter bestimmten Maßnahmen etwas abgeben müssen. Wenn man sich aber an der Mehrheit orientiert, ist zum Beispiel die Erbschaftssteuer ein Instrument, das in beiden Ländern suboptimal eingesetzt wird. Fachleute unterstützen diese Steuer ziemlich unabhängig von ihrem politischen Verständnis, denn es ist eine Steuer, bei der die Bemessungsgrundlage der Erbschaften extrem ungleich verteilt ist. Auch wird durch die Erbschaftssteuer eine sehr geringe Anreizwirkung ausgeübt, und sie versteuert Vermögen, das nicht von der Person akkumuliert wurde, welche die Steuer zu entrichten hat. In Österreich gibt es gar keine Erbschaftssteuer, in Deutschland ist sie voll von Schlupflöchern – daher ist sie ein wichtiges Beispiel eines ungenutzten Spielraums.

STANDARD: 2014 haben Sie ein Buch mit dem Titel "Bessere Welt. Hat der Kapitalismus ausgedient?"veröffentlicht. Inwiefern stimmen Sie der Kritik am Kapitalismus zu?

Corneo: Eine angebrachte Kritik ist zum Beispiel, dass im Kapitalismus Ressourcen wie menschliche Arbeitskraft oft ungenutzt bleiben. Oder dass die Verteilung des Wohlstands weder den Bedürfnissen noch den Verdiensten der Menschen entspricht, oder auch dass die Menschen in vielen Arbeitssituationen Tätigkeiten ausüben, die für ihr humanes Entfalten nicht förderlich sind. Das Problem der Kapitalismuskritik liegt aber darin, dass sie steril bleibt, wenn sie nicht in der Lage ist, glaubwürdige Alternativen aufzuzeigen.

STANDARD: Wie kann unser Wirtschaftssystem konkret verbessert werden?

Corneo: Einerseits könnte das durch eine Vertiefung der Demokratie gelingen. Ein Teil der Herrschaftsstrukturen in jeder Gesellschaft sind soziale Konstrukte, die nicht wirklich notwendig sind, um die materielle Reproduktion der Gesellschaft zu gewährleisten. Ich plädiere daher dafür, dass wir direktdemokratische Maßnahmen stärken, anstatt immer mehr zu einer elitären Demokratie zu werden. Dass der Kapitalismus insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wirtschaftssystem mit menschlichem Antlitz werden konnte, hat vor allem auch mit der Rolle der Gewerkschaften und der Verteilung der Löhne zu tun. Das wird aber durch die Technologien und die Globalisierung geschwächt. Daher ist das Modell der sozialen Marktwirtschaft längerfristig nicht nachhaltig.

STANDARD: Welche Lösung schlagen Sie vor?

Corneo: Wir sollten auf der Ebene der Verteilung von Kapitalerträgen ansetzen. Durch die Robotisierung und die Globalisierung wird die Lohnquote weiter zurückgehen, und die Kapitalquoten werden an Bedeutung gewinnen. Daher müssen wir beim Kapitaleinkommen zu einer vernünftigen Verteilung kommen. Das ist meines Erachtens möglich, wenn wir die Rolle von kollektivem Eigentum und Kapital neu überdenken. Ich schlage als ersten Schritt einen Staatsfonds vor, der hauptsächlich in den Weltaktienmarkt investiert, ohne die Kontrolle von Unternehmen zu erlangen. Die Erträge daraus sollen für eine soziale Dividende verwendet werden, die an jeden Bürger ausbezahlt wird. Da die unteren Einkommen davon überproportional profitieren würden, könnte dieses Instrument die Einkommensverteilung angleichen.

STANDARD: Von welchen Beträgen sprechen wir dabei?

Corneo: Nach meinen Berechnungen liegt der optimale Marktwert von so einem Staatsfonds bei ein Drittel bis der Hälfte des Bruttoinlandsprodukts. Wenn man eine Nettorendite von sechs Prozent im Jahr annimmt, bekommen wir zwei bis drei Prozent des BIP für die soziale Dividende. Das macht 1.000 bis 1.500 Euro pro Kopf und Jahr. Diese Zahl gilt für Deutschland, in Österreich wäre der Betrag ähnlich.

STANDARD: Würde diese soziale Dividende zusätzlich zu bestehenden Sozialleistungen ausgeschüttet werden?

Corneo: Ja.

STANDARD: Woran liegt es, dass diese Idee nicht längst überall umgesetzt worden ist?

Corneo: Zum Teil ist die Idee bereits umgesetzt, zum Beispiel in Alaska. Dort gibt es seit Ende der 1970er-Jahre einen Staatsfonds, seit den 1980ern wird eine soziale Dividende von 2000 Dollar pro Kopf pro Jahr ausbezahlt. Norwegen ist wohl das erfolgreichste Beispiel von so einem Staatsfonds. Das Problem ist die Finanzierung, also die Erstausstattung des Fonds. In Alaska und Norwegen sind die Fonds durch Einnahmen aus dem Ölgeschäft finanziert worden. Deutschland und Österreich haben kein Öl, dafür aber ihre Bonität als Kreditnehmer auf dem Weltkapitalmarkt – dadurch wäre eine schuldenfinanzierte Ausstattung des Staatsfonds möglich. Mein Vorschlag für Deutschland ist, dass man drei Viertel des Fonds über Staatsverschuldung und ein Viertel über zweckgebundene Einnahmen der Erbschaftssteuer finanziert.

STANDARD: Könnte man damit auch dem möglichen Wegfall von Arbeitsplätzen durch die Robotisierung begegnen?

Corneo: Wenn menschliche Arbeitskraft fast überflüssig wird, werden die Arbeitseinkommen einen geringen Anteil des Volkseinkommens ausmachen. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist dann die Frage entscheidend: Wem gehören die Roboter? Entweder hat jeder Haushalt einen Roboter. Oder wir besitzen kollektiv einen Teil der Roboter – das ist meiner Meinung nach der sinnvollere Weg. Durch die Erträge, die wir dadurch erwirtschaften, könnte eine soziale Dividende ausgezahlt werden.

STANDARD: Wann sollten wir beginnen, kollektiv Roboter anzuschaffen?

Corneo: So früh wie möglich. Jedes Jahr, das vergeht, ohne diesen Fonds zu haben, bedeutet verlorene Erträge. (Tanja Traxler, 4.10.2017)