Goldfarbene Gießkannen, rosa Gartenschläuche, dazwischen acht arbeitende Menschen. Montagvormittag in einem Conceptstore für Gartenaccessoires in der Wiener Burggasse. Freiberufler haben sich hier zum gemeinsamen Arbeiten zusammengetan. "Coworking im Grätzel" nennt sich die Veranstaltungsreihe, die Mirjam Mieschendahl ins Leben gerufen hat. Lokalitäten der Stadt stellen dafür außerhalb der Öffnungszeiten ihre Räume zur Verfügung. Mittlerweile hat man schließlich die Möglichkeit, von überall aus zu jeder Zeit zu arbeiten. "Wir sind komplett digitalisiert", sagt Mieschendahl. Warum sollte man sich das nicht zunutze machen und zum Beispiel eben vom Café aus arbeiten?

Für Matthias Horx, Gründer des Zukunftsinstituts, ist das flexible Arbeiten ein Phänomen eines größeren Trends: der Individualisierung. "Die moderne Gesellschaft setzt Menschen frei. Sie gibt ihnen die Freiheit zu entscheiden", sagt Horx. "Der Wert 'Ich will mein eigenes Leben leben' ist in den letzten 50 Jahren massiv angestiegen." Während früher das Leben vorgezeichnet schien, muss man sich heute oft aktiv entscheiden: Welcher Beruf, welche Stadt, welcher Partner? Und nicht zuletzt: Wie will ich arbeiten? Schließlich kann der Laptop zu jeder Zeit theoretisch überall aufgeklappt werden.

Näher zusammenrücken

Viele genießen diese Flexibilität. Allein sein wollen sie deshalb aber nicht. Das beschreibt Horx als das "Grundproblem" der Individualisierung: "dass sie einsam macht". Der Trend habe deshalb – wie jeder – auch einen Gegentrend zur Folge: die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Der Mensch sei eben von Natur aus ein soziales Wesen, daran ändere auch die Digitalisierung nichts, sagt Mieschendahl. "Das Bedürfnis nach Reden bleibt."

Wohl deshalb startet ein Coworking-Konzept nach dem anderen, eröffnet ein Coworking-Space nach dem nächsten. Es gibt mittlerweile Angebote für alle möglichen Bedürfnisse – für junge Mütter, für Modeschaffende, für Sozialunternehmer. Inzwischen teilen sich Menschen zum kollektiven Arbeiten aber nicht mehr nur ein Café oder ein Großraumbüro irgendwo in der Stadt, sondern sogar die eigene Wohnung. Ein Schwede hat Hoffice gegründet – eine Vernetzungsplattform für Fremde, die einander zum Coworking nach Hause einladen. In den gemeinsamen Pausen massiert man einander. Hoffice-Gruppen gibt es derzeit in rund 120 Städten weltweit, auch in Österreich.

Auf "Hoffice" verabreden sich Fremde zum gemeinsamen Arbeiten daheim. Im Bild: Eines der ersten Events in Schweden.
Foto: amrit daniel forss

Den Ursachen für die Suche nach neuen sozialen Konstellationen geht eine Studie auf den Grund: "Die neue Wir-Kultur", erstellt von Horx' Zukunftsinstitut. Die verstärkte Wir-Orientierung, steht darin geschrieben, sei mitunter die Reaktion auf eine Vuca-Welt. Die Abkürzung steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität (Complexity) und Ambiguität. "Das beschreibt ein Umfeld, in dem alles in ständiger Bewegung ist, hochvernetzt und äußerst volatil." Menschen würden sich bewusst, dass die Zukunft kaum mehr plan- oder vorhersagbar ist. Familie, Kirche und Staat bieten keinen Halt mehr. Es sei "eine Welt, die leicht als Bedrohung und Überforderung erlebt werden kann und in der er sich eine wesentliche Frage stellt: Was können wir tun, um in ihr zu leben? Näher zusammenzurücken scheint eine Lösung zu sein."

Und dieses nähere Zusammenrücken beobachten die Studienautoren "an unterschiedlichsten Stellen und Orten der Gesellschaft". Denn nicht nur zum Arbeiten tun sich Menschen zusammen: auch zum gemeinsamen Wohnen, zum Coliving. Ebenfalls beliebter wird kollektives Gärtnern, das unter der Bezeichnung Cogardening firmiert.

Mit Nachbarn teilen

Geteilt und getauscht werden außerdem Gebrauchsgegenstände, Fähig- und Fertigkeiten. Leila heißt beispielsweise ein Leihladen im Wiener Bezirk Hernals. Dort werden Gegenstände gelagert, die Menschen typischerweise nur selten verwenden: Werkzeuge, aber auch Musikinstrumente, Fonduesets bis hin zu Adaptern für den Urlaub und Gästebetten. So sollen Ressourcen geschont werden.

Ebenfalls in Wien hat der Künstler Frank Gassner "offene Bücherschränke" aufgestellt: Menschen entnehmen Bücher, die sie nicht mehr benötigen, und legen andere hinein. Ähnlich funktionieren die sogenannten Fair-Teiler: Hier können übriggebliebene, aber noch essbare Nahrungsmittel hingebracht werden.

Teilen und Tauschen: In den "offenen Bücherschränken" in Wien können alte Bücher abgelegt und neue entnommen werden.
Foto: Matthias Cremer

Auf Internetseiten wie "neighbours.help" offerieren Menschen anderen ihre Hilfe. Gesucht und geboten werden etwa Mathenachhilfe- oder Geigenstunden, Unterstützung beim Zusammenbauen eines Bücherregals oder beim Einstellen einer Satellitenschüssel. Eine Nutzerin sucht nach jemandem, der ihr dabei hilft, ein kurzes Video zu drehen. Ein anderer Nutzer möchte lernen, wie man selbst Holundersirup herstellt. Auch zum Lauftraining verabredet man sich auf neighbours.help. Patrick Schranz, Gründer der Plattform, ist im Burgenland aufgewachsen und lebt seit rund zehn Jahren in Wien. Er möchte mit der Website das Land in die Stadt bringen. "Wir verfolgen den Gedanken, dass wir alle Nachbarn sind", sagt der Student in einem Interview.

Neu ist die Idee freilich nicht. Nachbarschaftshilfe gibt es seit jeher. Auch öffentliche Bibliotheken basieren auf dem Gedanken, dass Menschen Dinge gemeinsam benutzen. Und schon immer haben Menschen Wohn- und Arbeitsgemeinschaften gegründet.

Sehr wohl neu ist jedoch, dass sich durch die neuen Technologien weit mehr Personen weit schneller zusammentun können. Während man sich vormals im Freundeskreis nach einem Laufpartner umsah, steht nun potenziell ganz Wien zur Verfügung.

Eingehen und auflösen

In der Moderne haben sich, wie es der Soziologe Ulrich Beck in seiner Individualisierungsthese formulierte, "starre Schicksalsgemeinschaften" aufgelöst. Ersetzt würden sie durch Beziehungen, die jederzeit eingegangen, jederzeit aber auch wieder aufgelöst werden können. Zukunftsforscher Horx bezeichnet sie als "Wahlverbindungen".

Wie neighbours.help zielen auch die meisten anderen Projekte darauf ab, Communitys zwischen vormals Unbekannten entstehen zu lassen. Mirjam Mieschendahl von "im Grätzl" ist der Überzeugung, dass es diese neuen Allianzen in Zukunft mehr denn je brauchen wird. Im Rahmen einer Umfrage hat Mieschendahl 400 Selbstständige interviewt. "Und gesehen, dass besonders jene erfolgreich sind, die sich vernetzen."

Gleich zu Beginn des gemeinsamen Arbeitstages fragt Mieschendahl die Teilnehmenden daher: "Wie heißt ihr, und was macht ihr genau? Was ist euch heute wichtig?" Dann kristallisiert sich heraus: Wer kann wem in welchem Stadium seines Unternehmens wie helfen?

Alexandra – man ist beim Coworking sofort per du – weiß als Excel-Spezialistin, wie man aus Daten wertvolle Informationen gewinnen kann. Sie hofft, bei "Co-Working im Grätzl" auf Menschen zu treffen, die ihr dabei helfen können, Flyer zu gestalten.

Alexandra – man ist beim Coworking sofort per du – weiß beispielsweise als Excel-Spezialistin, wie man aus Daten wertvolle Informationen gewinnen kann und sucht jemanden, der Flyer gestaltet und ihre Website auf Vordermann bringt. Natascha, die eine Vernetzungsplattform für junge Mütter gründen möchte, will sich vor allem Feedback zu ihrer Idee holen und Tipps für die Umsetzung. Man tauscht Nummern aus, verabredet sich auf einen Kaffee. Es gehe darum, "anderen Türen zu öffnen", sagt Mieschendahl.

Spätestens hier wird eine Komponente der neuen Gemeinschaften deutlich, die nicht mehr ganz zum Wohlfühlcharakter passt. Spätestens hier zeigt sich: Neben dem Ressourcenschonen, neben dem gegenseitigen Helfen, geht es ganz klar auch um eines: den unmittelbaren Nutzen.

Wer teilen will, muss besitzen

Zahlreiche Plattformen verdienen mit dem Teilen, Tauschen und Verborgen längst ihr Geld. Die wohl bekanntesten Beispiele der Sharing Economy sind Carsharing-Angebote wie Car 2 Go oder Vermittlungsplattformen wie AirbnB oder Uber. Gegner sehen darin eine neue Form des Kapitalismus: den Plattformkapitalismus. Die Sharing Economy führe letztendlich zu einer "Totalkommerzialisierung des Lebens", sagte unlängst etwa der Philosoph und Kulturwissenschafter Byung-Chul Han – mit Verweis auf Airbnb, das sogar die Gastfreundschaft ökonomisiere. Das Problem laut Han: "Es ist keine zweckfreie Freundlichkeit mehr möglich." Außerdem: Wer etwas teilen möchte, muss zunächst einmal etwas besitzen. Wer nichts hat, könnte aus den neuen Communitys ausgeschlossen bleiben.

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Für die einen eine neue Form des Teilens, für die anderen "Plattformkapitalismus": Sharing-Economy-Konzepte wie Car 2 Go.
Foto: Reuters/Mike Blake

Die neuen Wir-Konstellationen können also zunächst als der Versuch gelten, in einer digitalisierten und globalisierten Welt nicht zu vereinsamen. Sie bieten den Menschen scheinbare neue Sicherheiten, wo alte erodieren. Während sie also einerseits für mehr Zusammenhalt stehen, werden sie andererseits im Sinne der Effizienz genutzt. Und sind somit selektiv.

Eine weitere Gefahr beschreiben die Autoren der "Wir-Studie": Die neuen Verbindungen bestehen nur noch auf Zeit, sie sind nicht stabil, man kann sich auf sie selten verlassen. "Der Einzelne macht damit die Erfahrung, dass mit quasi endloser, unhinterfragter Gemeinschaftlichkeit nicht mehr zu rechnen ist." (Lisa Breit, 25.12.2017)