40 Millionen Euro, 16 Folgen zu je 45 Minuten, 190 Drehtage an 280 verschiedenen Orten, 900 Drehbuchseiten, monatelange Arbeit am Schneidetisch. Tom Tykwer lehnt den Kopf an die Schulter von Henk Handloegten. Vor ihm steht ein Wasserglas, in dem Ingwerstückchen schwimmen. "Nicht so schlimm", sagt der Regisseur, gefragt nach seinem Befinden. Eine Erkältung, "fast vorbei".

Diese Stadt ist eine Bühne: Berlin 1929.

"Monster" sagt Handloegten zu "Babylon Berlin", der Polizeiserie, die am 13. Oktober auf Sky startet und – so viel vorweg – stilistisch und erzählerisch Bisheriges aus deutschen Landen ziemlich in den Schatten stellen wird. Tykwer und Handloegten führten gemeinsam mit Achim von Borries Regie. Die Geschichte folgt dem Buch "Der nasse Fisch" von Volker Kutscher und spielt in der Weimarer Republik der 1920er-Jahre, als Berlin am Rande des Abgrunds zittert, bebt und tanzt, als gäbe es kein Morgen.

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Gebrochener Held: Gereon Rath, dargestellt von Volker Bruch.

Held der Geschichte ist der Sittenpolizist Gereon Rath (Volker Bruch, Foto), der von Köln nach Berlin versetzt wird und dort einen Fall um russische Spionage und organisiertes Verbrechen lösen muss, während in der Hauptstadt korrupte Polizisten Razzien unter Pornografen durchziehen, Kommunisten den Umsturz proben, Nationalsozialisten sich in Stellung bringen, während in den Tanzbuden obszöne Feste gefeiert werden und in den Wohnungen dahinter bittere Armut herrscht.

"Als wir angefangen haben, schwebte uns allen drei etwas vor, was man als umfassendes Sittengemälde der Zeit, der Stadt, die Ursprünge der deutschen Nation als Demokratie nennen kann", sagt Borries. Es sollte fünf Jahre dauern, bis sich Kutschers Buch aufdrängte: "Wir können diese Geschichte erzählen, mit allen Institutionen. Das war unser Korsett, unser Skelett, an dem wir anbauen konnten."

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Geheimnisvoll: Severija Janusauskaite

"Man geht auf eine Zeitreise", fügt Tykwer hinzu. "Volker Kutscher hat uns geholfen, durch diesen sehr interessanten Plot, der eine Klarheit hat und überall Öffnungen hat, die man weiterverfolgen kann."

Literaturverfilmungen sind so gut wie immer mit einem Urteil konfrontiert: "Nicht so gut wie das Buch." Um dieser Hinrichtung zu entgehen, haben sich die drei vollkommen von der Vorlage emanzipiert, indem sie gar nicht erst versucht haben, sich in Details der Vorlage zu verlieren. An den handelnden Personen wurde mächtig gebastelt, Handlungsstränge umgedreht, Chronologien durcheinandergewirbelt, bis am Ende ein eigenes Kunstwerk entstand.

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Liv Lisa Fries spielt Charly Ritter.

Während Kutscher den Fall als Vehikel nutzt, um Zeit und Atmosphäre zu beschreiben, fügten Borries, Handloegten und Tykwer den Serienfiguren Brüche zu, etwa in der Medikamentenabhängigkeit Raths oder in Sado-Maso-Spielen der von ihm verehrten Kollegin Charly Ritter (Liv Lisa Fries).

Und so kam es auch zu jener Wahnsinnsszene am Ende der zweiten Folge, in der im "Moka Efti" gute zehn Minuten zu der von Tykwer geschriebenen und von Severija Janusauskaite höllisch gut interpretierten Nummer "Zu Asche, zu Staub" der Bär steppt, während im kommunistischen Untergrund ein blutiges Massaker tobt. Ein Tanz, ein Rausch, ein Untergang.

Borries: "Im Drehbuch liest sich das so: Wie jeden Abend feiern bis zu tausend Ausgehwütige, als gäbe es kein Morgen. Punkt." Fünf Drehtage habe diese Sequenz gedauert, erzählt Tykwer. "Alle haben uns gefragt: 'Seid ihr verrückt geworden?'"

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Tom Tykwer mit Gattin Marie Steinmann bei der Premiere von "Babylon Berlin".

Zweieinhalb Jahre arbeiteten die drei am Drehbuch, immer ein Ziel vor Augen: "Wir wollten einen zwölfstündigen Kinofilm. Der fantastische Vorteil an der Serie ist, dass man verweilen kann. Im Kino gibt es für Atmosphäre mehr Raum, Serien sind mehr plot- und dialoggetrieben. Davon wollten wir uns abgrenzen", sagt Tykwer.

Also einmal alles: "Wir haben die Szenen zusammen entwickelt und im Reihumverfahren ausgeschrieben. Wenn der Erste die Fassung fertig hatte, kam der andere dran. Es war eine permanente Übermalung", sagt Handloegten.

Foto: Reuters/AXEL SCHMIDT
Wilde Straßenschlachten während der Mairunruhen 1929 in Berlin.

Diskutiert wurde viel, bestätigen alle. Drei Regisseure, das kannte bisher nur Tykwer von "Cloud Atlas" mit den Wachowski-Brüdern 2012. Für Borries und Handloegten war das neu – und ein Risiko, besonders im Schneideraum: "Drei Editoren und drei Regisseure – sechs Meinungen in einem Raum", sagt Handloegten. "Wenn man fertig ist mit einer Szene und sich denkt, das ist doch super so, dann kommt der Nächste und sagt: 'Nein, das machen wir anders.'" Aber man vertrug sich bis zum Schluss, sagt Borries: "Es ist nie einer weggegangen und hat dann drei Tage nichts mehr geredet."

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Achim von Borries.

Dass Kutschers Roman den dreien so gut ins Konzept passte, hängt auch mit Parallelen zu heute zusammen. Wie nahe ist 2017 an 1929? Borries: "Geschichte wiederholt sich nicht. Als wir vor fünf Jahren anfingen, haben wir schon gespürt, dass es Ähnlichkeiten gibt. Damals waren es die Nachwirkungen der Finanzkrise, die Europa erschütterten. Fünf Jahre später stehen wir plötzlich vor einer Situation, dass wir eine rechte Partei im Bundestag haben, mit einigen Vertretern, die nur als Neonazis zu bezeichnen sind. Die Einheit Europas ist infrage gestellt. Das ist vergleichbar. Die späten 1920er-Jahre waren eine Zeit tiefer Verunsicherung. Es konnte jederzeit alles über den Haufen geworfen werden, das versucht auch die Serie zu erzählen."

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Henk Handloegten.

Henk Handloegten: "Zu sehr sollte man diese Vergleiche nicht strapazieren. In der vierten Folge ist es so, dass die Polizei mit brutalster Gewalt die verbotenen Demonstrationen am 1. Mai in der KPD niederschießt. Diese Entschlossenheit kann ich bei der heutigen SPD nicht bemerken. Das waren schon andere Zeiten. Die Leute wussten nicht, was kommt, sie waren mit einer gewissen Wachheit ausgestattet. Teile der etablierten Parteien haben verkannt, wie groß die Gefahr von rechts ist."

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Trailer zu "Babylon Berlin".

Tykwer: "Wir wollen es nicht auf die Gefahr von rechts reduzieren. Trotzdem gibt es frappierende Ähnlichkeiten. Berlin ist zum ersten Mal heute wieder eine Boom-Stadt, die wächst und sich allmählich der Dichte von 1929 annähert. Inzwischen ist auch hier der Wohnraum knapp geworden, vielleicht noch nicht so wie 1929, dass sich ganze Familien in einer Wohneinheit zusammenpressen müssen. Berlin ist wieder eine internationale Stadt, und die Wurzeln dessen, was heute blüht und Mythos geworden ist, liegen in den 1920er-Jahren." (Doris Priesching aus Berlin, 8.10.2017)

Die Fahrt nach Berlin wurde von Sky unterstützt.

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