Geht es nach den Wissenschaftern, schlafen wir viel zu wenig, vor allem zu wenig erholsam und tief.

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Peter Spork wurde 1965 in Frankfurt am Main geboren. Er ist Biologe und Wissenschaftsautor. Sein Bestseller "Das Schlafbuch" erschien vor zehn Jahren.

In seinem Buch "Wake-up! Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft" nutzt er die Erkenntnisse aus Schlafforschung und Chronobiologie für einen Plan, der uns allen hilft, mehr Schlaf zu finden (Hanser-Verlag, 248 Seiten).

STANDARD: Millionen Menschen klagen über zu wenig Schlaf. Sie sagen: Unsere Gesellschaft ist chronisch unausgeschlafen. Woran liegt das?

Peter Spork: Wir können unsere Zeit im Grunde auf drei Arten verbringen: Wir können arbeiten, wir können frei haben, und wir können schlafen. Wir arbeiten oft mehr oder zumindest nicht weniger als früher, gleichzeitig spielt Freizeit eine immer größere Rolle. Der Schlaf bleibt auf der Strecke. Je mehr Menschen arbeiten, desto weniger schlafen sie. Sie sind nicht bereit, auf Freizeit zu verzichten. Sie stellen sich den Wecker, um früher aufzustehen, gehen deshalb aber nicht früher zu Bett. Heute schlafen wir eine Stunde weniger als noch vor 20, 30 Jahren, und werktags im Schnitt 38 Minuten weniger als noch vor zehn Jahren.

STANDARD: Und ist ein Ende in Sicht?

Spork: Die Grenze ist längst überschritten. Wir merken es nur nicht – weil wir kein Sinnesorgan für chronischen Schlafmangel haben. Die Gesellschaft denkt, sie kann immer so weitermachen. Schon heute lässt sich ein Anstieg an Stoffwechselkrankheiten und psychischen Erkrankungen beobachten. Erwachsene leiden an Burnout, Kinder bekommen ADHS – alles Dinge, die durch Schlafmangel begünstigt werden. Dennoch stellen wir oft keinen Zusammenhang her.

STANDARD: Wie lange sollten wir denn schlafen?

Spork: Entscheidend ist nicht unbedingt, wie lange ich schlafe – sondern, dass ich zur richtigen Zeit schlafe, erholsam und tief. Starke Schnarcher wachen nachts immer wieder auf und kommen nie in den Tiefschlaf. Die können 13, 14 Stunden schlafen und wachen trotzdem wie gerädert auf. Das Ziel sollte keine Schlafdauer sein, sondern ein erholsamer Schlaf. Es gibt tatsächlich einige Menschen, die kommen mit sechs Stunden aus. Man vermutet, dass die einen besonders tiefen Schlaf haben. Die Masse der Menschen braucht aber um die acht Stunden Schlaf.

STANDARD: Es gilt also: Qualität statt Quantität?

Spork: Wer besonders gut schlafen will, sollte tagsüber, vor allem vormittags, aktiv sein. Um ausgeschlafen zu sein, muss ich so lange schlafen, bis ich ohne Wecker wach werde. Ich sollte mir dann auch nicht vornehmen, zu einer bestimmten Uhrzeit wach zu sein. Auch der biologische Wecker kann uns zu früh wecken. Wer schlafen geht, wenn er schläfrig wird, schläft zur optimalen Zeit. Dann gehe ich eben nicht ins Bett, wenn meine Lieblingssendung vorbei ist, sondern wenn ich müde werde.

STANDARD: Viele Menschen werden aber erst sehr spät von allein müde – und sind morgens dann entsprechend unausgeschlafen.

Spork: Jeder Mensch ist ein individueller Chronotyp. Die Frühaufsteher werden "Lerchen", die Spätaufsteher "Eulen" genannt. Die meisten Menschen sind aber irgendwo dazwischen. Wissenschaftler glauben, dass die große Zahl an Chronotypen ein Artefakt unserer vergleichsweise unnatürlichen Lebensweise ist. Wer sich tags kaum im Freien aufhält und abends künstlichem Licht ausgesetzt ist, wird später müde. Wenn Sie aber einen Campingurlaub machen, tagsüber viel unterwegs sind und es abends dunkel haben, dann rücken die Chronotypen der Menschen näher zusammen. "Eulen" gibt es dann fast gar keine mehr. Es ist wahrscheinlich, dass diese extremen Spättypen in der Steinzeit noch gar nicht existierten.

STANDARD: Was geschieht in unserem Körper, wenn wir schlafen?

Spork: Heute wissen wir, dass der Körper nachts genauso vital und aktiv ist wie im Wachzustand. Er verbraucht im Schlaf auch genauso viel Energie, sie wird nur für andere Dinge eingesetzt. Er erledigt viele Arbeiten, die er im Wachzustand schlecht erledigen kann: Er bekämpft nicht nur Krankheiten, er verjüngt sich auch. Das Hormon, das Kinder wachsen lässt – Kinder, die zu wenig schlafen, werden übrigens kleiner als andere –, sorgt bei erwachsenen Menschen dafür, dass sich der Körper regeneriert, dass neue Zellen gebildet werden. Die wichtigste Funktion aber ist die Gedächtniskonsolidierung: Das Gehirn verarbeitet und verfestigt alle Informationen, die es im Wachzustand aufgenommen hat. Das spiegelt sich auch in unseren Träumen wider. Nachts ist die Zeit, in der neue Zusammenhänge im Hirn geknüpft werden. Morgens, nach dem Aufwachen, sind wir oft schlauer und haben eine neue Lösung für ein Problem.

STANDARD: In der Wirtschaft gelten Lang- und Vielschläfer trotzdem als Verlierer. Woher hat der Schlaf sein schlechtes Image?

Spork: Dieses Bild ist zutiefst in unserer Gesellschaft verwurzelt. Ich glaube, es geht zurück auf die Agrargesellschaft. Der Bauer musste eben früh aufstehen, um sich um sein Vieh zu kümmern. Seitdem heißt es: "Morgenstund' hat Gold im Mund." Und Schlaf ist bis heute einfach nicht sexy. Menschen, die erfolgreich sein wollen, geben oft damit an, mit sehr wenig Schlaf auszukommen. Die, die viel schlafen, können nach dieser Logik gar keinen Erfolg haben. Sie gelten als faul. Das ist grundverkehrt: Nur wer auf ausreichend Schlaf achtet, ist auch voll leistungsfähig. Das hat sich nur noch nicht herumgesprochen. Wir haben viele falsche Vorbilder: Politiker, Medien- und Kulturschaffende oder Topmanager, die behaupten, vier oder fünf Stunden Schlaf seien genug. Wir sollten eher auf jene achten, die ausreichend schlafen und vielleicht gerade deshalb Besonderes leisten. Goethe oder Einstein zum Beispiel. Beide haben extrem gern geschlafen – doch darüber spricht kaum jemand.

STANDARD: Demgegenüber stehen heute Prominente wie Cristiano Ronaldo. Der hat einen Schlafcoach engagiert. Seitdem, heißt es, schlafe er nicht mehr am Stück, sondern fünfmal am Tag je 90 Minuten.

Spork: Es gibt viele Hinweise darauf, dass man den Schlaf nicht am Stück und nicht ausschließlich in der Nacht nehmen muss. Wenn man tatsächlich fünfmal 90 Minuten schläft, kommt man in der Summe auf 7,5 Stunden Schlaf. Das ist ein gesundes Maß. 90 Minuten klingen zunächst auch ganz gut, weil ein Schlafzyklus mit Leicht-, Tief- und REM-Schlaf ungefähr so lange dauert. Im Zweifel bekommt man aber nicht genügend Tiefschlaf, wenn man überwiegend am Tag schläft. Und Menschen, die solchen Modellen nacheifern, machen es oft falsch. Die versuchen dann zum Beispiel, fünfmal am Tag nur 20 Minuten zu schlafen. Das ist natürlich viel zu wenig.

STANDARD: Junge Matratzen-Start-ups versprechen uns heute ja nicht nur neuen Komfort, sondern fast schon ein besseres Leben. Wie viel Einfluss hat die Matratze auf unseren Schlaf?

Spork: Sie kann gewaltigen Einfluss haben, in dem Moment, wo sie Rückenschmerzen verursacht. Das ist aber ein eher orthopädisches Problem, und das löst man auch nicht, indem man die teuerste Matratze kauft. Im Idealfall sollte man die Möglichkeit haben, eine Matratze bei sich zu Hause über zwei, drei Nächte Probe zu liegen. Dann weiß man, ob sie wirklich zu einem passt – und manchmal ist das dann sogar eine günstige.

STANDARD: Gibt es andere Produkte, die uns helfen, besser zu schlafen?

Spork: Es gibt kein technisches Mittel, das einem hilft, mit weniger Schlaf auszukommen. Das wird es auch nie geben. Es gibt aber dank der Forschung viele neue Entwicklungen, die dafür sorgen, dass man mehr, länger und tiefer schlafen kann. Es gibt zum Beispiel tolle Schreibtischlampen, die ihre Farbtemperatur und Helligkeit dem Rhythmus des Menschen anpassen. Morgens ist das Licht ganz hell und kalt, abends wird es dann immer wärmer und dunkler. Das unterstützt die innere Chronobiologie – und darum geht es letztlich: dass ich meinen eigenen biologischen und den äußeren sozialen Rhythmus in Einklang bringe. Noch besser ist es natürlich, sofern möglich, im Freien zu arbeiten. Ich gehe morgens oft eine Runde joggen, aber das kann sich auch nicht jeder zeitlich leisten.

STANDARD: Und was ist mit all den Apps wie zum Beispiel Sleep Cycle, die versprechen, den Nutzer zur optimalen Zeit innerhalb eines bestimmten Fensters aufzuwecken?

Spork: Das ist das Prinzip des Schlafphasenweckers. Er misst die Matratzenbewegung oder andere Parameter, um mich während der Leichtschlafphase zu wecken, in der ich ohnehin von allein kurz wach werde, aber dann gleich wieder einschlafe – auch mitten in der Nacht. In der Theorie klingt das schön, aber indem ich das Ende des Fensters auf den Zeitpunkt setze, an dem ich auf jeden Fall aufstehen muss, geht mir oft kostbare Schlafenszeit verloren. Ich kann zwar leichter aufstehen, weil ich in der Leichtschlafphase geweckt werde. Aber wenn ich 30 Minuten später geweckt worden wäre, hätte ich mit Sicherheit noch etwas tieferen Schlaf mitnehmen können, der sehr wichtig ist. Ich schlafe also im schlimmsten Fall jede Nacht 30 Minuten weniger, als ich könnte.

STANDARD: Kann man das Defizit am Wochenende nachschlafen?

Spork: Man muss es sogar. Wenn wir das nie tun, landen wir irgendwann bei Burnout, Depression, oder wir bekommen einen grippalen Infekt, bei dem wir eine Woche lang fast durchschlafen. Der Körper holt sich auf diese Art Schlaf zurück. Biologen unterscheiden zwischen Schlaf und Ruhe: Viele Organismen haben zwar auch ein Ruhebedürfnis, aber versäumte Ruhe müssen sie nicht nachholen. Wenn Sie ihnen aber Schlaf rauben, werden sie im Anschluss länger und häufiger schlafen. Das funktioniert sogar bei Würmern, deren Nickerchen dann statt acht bis zwölf Sekunden 20 bis 30 Sekunden dauern. Wenn Sie einen Menschen zu wenig schlafen lassen, wird er im Urlaub oder am Wochenende länger schlafen. Wir alle leben im sogenannten sozialen Jetlag, unter der Woche schlafen wir zu wenig, am Wochenende versuchen wir, das zu kompensieren. Zwei Tage reichen aber nicht, um das Defizit auszugleichen. Ideal wäre es, sagen Wissenschaftler, vier Tage zu arbeiten und drei Tage Wochenende zu haben.

STANDARD: Wenn man am Wochenende ganz lange schläft, warum fühlt man sich nach dem Aufstehen manchmal noch müder?

Spork: Weil wir unser chronisches Defizit nicht auf einmal ausgleichen können. Wenn man plötzlich zwei Stunden länger schläft als sonst, heißt das ja nicht, dass man gleich viel ausgeschlafener ist. Das Defizit wird nur minimal abgebaut, man wacht aber womöglich zu einem ungünstigen Zeitpunkt auf. Der Körper wird dann zwar geweckt von der inneren Uhr, die auf Aktivität umstellt, man ist in Wahrheit aber noch unausgeschlafen. Auch tagsüber haben wir Hochs und Tiefs in unserer Aktivität – das erste Hoch hat der Körper vielleicht überschlafen, und im ersten Tief wacht man dann auf. Und dann sagen die Leute: Ich habe viel zu lange geschlafen. Im Grunde kann man das aber gar nicht. (Florian Siebeck, RONDO, 26.10.2017)

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