SNP-Mitglieder beim Parteitag in Glasgow.

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Vor einem halben Jahr provozierte das schottische Regionalparlament die Zentralregierung in London mit der Forderung nach einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum. Hingegen spielte das Thema nur eine Nebenrolle, als am Dienstagnachmittag die schottische Ministerpräsidentin mit einer programmatischen Rede den Parteitag ihrer Nationalistenpartei SNP in Glasgow beendete. Die Loslösung vom Vereinigten Königreich bleibe ihr Traum, sagte Nicola Sturgeon, widmete sich aber vor allem der Innenpolitik: Mit Bildungsreformen und kostenlosen Kindergartenplätzen werde ihre Regierung Schottland "zum weltweit besten Land für den Nachwuchs" machen.

Der eklatante Stimmungswechsel folgt dem ernüchternden Ergebnis der Unterhauswahl vom Juni. Zwar blieb die SNP mit Abstand stärkste Partei Schottlands und schickt 35 der insgesamt 59 Abgeordneten ins Parlament von Westminster. Doch gingen im Vergleich zu 2015 ein Viertel der Stimmen und 21 Mandate verloren; unter den Besiegten waren hochkarätige Parlamentarier wie der frühere Ministerpräsident Alec Salmond sowie Angus Robertson, der Parteivize und frühere Fraktionschef im Unterhaus. Beide wurden Opfer einer Renaissance der schottischen Konservativen, die statt wie zuvor mit einem einzigen nun mit 13 Sitzen im Unterhaus vertreten sind. Zudem konnten Labour (6) und Liberaldemokraten (3) den Nationalisten Sitze abjagen.

Wähler gegen neues Referendum

Wie 2015 hatte die SNP ihren Wahlkampf auch in diesem Jahr ganz auf ihre Vorsitzende zugeschnitten, obwohl Sturgeon erneut gar nicht kandidierte. Was zwei Jahre zuvor zu sensationellen 50 Prozent der Stimmen und – bedingt durch das Mehrheitswahlrecht – 56 von 59 Mandaten geführt hatte, ging diesmal nach hinten los. Offenbar nahmen viele vorherige SNP-Wähler den Nationalisten das Gerede von weiteren Volksabstimmungen übel.

Das mag an einer gewissen Wahlmüdigkeit liegen: In den vergangenen drei Jahren waren die Schotten sechsmal zur Stimmabgabe aufgerufen. Im September 2014 erteilten sie der Unabhängigkeit mit 55 zu 45 Prozent eine Absage, bei einer sensationell hohen Beteiligung von 85 Prozent. Jüngste Umfragen sehen den Anteil der Unionsbefürworter noch ein wenig höher. Wenig populär scheint auch Sturgeons Forderung zu sein, über den Brexit-Deal erneut das Volk zu befragen. Beim EU-Referendum plädierten 62 Prozent für die weitere EU-Mitgliedschaft.

Mühen des Regierungsalltags

Die als vorsichtig geltende 47-Jährige habe sich von risikofreudigeren Nationalisten wie ihrem Vorgänger Salmond zu überstürztem Aktionismus hinreißen lassen, glauben viele Beobachter. "Sie hat den Brexit-Prozess verpfuscht, zu viel gefordert und nichts erreicht", urteilt Martin Kettle vom "Guardian". Am Dienstag beschränkte sich die Regierungschefin darauf, wieder einmal Bürger anderer EU-Staaten zum Verbleib in Schottland aufzurufen. All jenen, die im öffentlichen Dienst tätig sind, werde ihre Regierung die Gebühren bezahlen, die London nach dem Brexit für eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erheben will. Der Betrag dürfte bei 73 Euro liegen.

Deutlich mehr Geld müssen die seit zehn Jahren regierenden Nationalisten in die Hand nehmen, wenn sie wie versprochen Krankenschwestern, Müllmännern und Lehrerinnen mehr Geld bezahlen wollen. Allerdings kämpft Finanzminister Derek Mackay mit schwachem Wachstum und einem hohen Defizit. Wahrscheinlich muss die SNP in Kürze die Einkommensteuer in Schottland erhöhen, was nach dem Autonomiegesetz möglich ist. Das mühsame Regierungsgeschäft rückt in den Vordergrund, die idealistischen Unabhängigkeitsparolen kommen in die Besenkammer – womöglich "für eine Generation", wie es der frühere Parteichef Salmond den Schotten vor der letzten Abstimmung versprochen hatte. (Sebastian Borger aus London, 10.10.2017)