Manche Verletzungen und Unfälle von Kindern könnte selbst ein "maßgerechter" Mensch nicht verhindern.

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Eine große Welle der Aufregung begleitete das Urteil des Obersten Gerichtshofs (OGH) über den Turnunfall in einem steirischen Kindergarten. Ein fünfjähriges Kind fiel von einer in eine Sprossenwand eingehängten Bank, während die Kindergärtnerin nicht unmittelbar neben der Rutschbank stehen konnte, weil sie zu dem Zeitpunkt 21 Kinder allein betreute. Wegen der dadurch erlittenen Verletzung des Kindes klagte der Vater auf Schadenersatz und berief auf die Verletzung der Aufsichtspflicht der Kindergärtnerin.

Landesweit sorgte für Aufruhr, dass der OGH die Aufsichtspflichtverletzung der Kindergärtnerin bejahte: Der Familie des verletzen Kindes steht ein Schadenersatz zu, für welchen mittelbar der Träger des Kindergartens aufkommt. Die Elementarpädagoginnen befürchten in der Folge künftig Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit der Kinder: Sie meinen, jetzt werde in vielen Kindergärten auf Nummer sicher gespielt und sich eben nicht bewegt. Sollten sie "die Kinder nur mehr auf Polstern sitzen lassen, damit sie weich fallen?", fragt beispielsweise der Berufsverband der Kindergarten- und Hortpädagogen (ÖDKH).

Realitätsferne Bewertungsmaßstäbe

Die Aufregung ist nachvollziehbar, aber es lohnt sich trotzdem, einen genauen Blick auf die Begründung des Urteils zu werfen: Es suggeriert nämlich – entgegen den Befürchtungen – nicht ein Turnverbot. Es hat lediglich die Verletzung der Aufsichtspflicht der Kindergartenpädagogin festgestellt; meiner Meinung nach auf Grundlage einer Fehleinschätzung. Das Höchstgericht stützt die Begründung auf das Verhalten eines "maßgerechten" Menschen in der konkreten Situation des Aufsichtspflichtigen und meint, die Kindergärtnerin hätte konkret vorhersehbare Gefahren meiden müssen und die Kinder nicht rutschen lassen dürfen (während sie im Raum anderweitig beschäftigt war).

Das Problem mit dem Maßstab des Gerichtes ist, dass manche Verletzungen und Unfälle von Kindern selbst ein "maßgerechter" Mensch nicht verhindern könnte. Alle erfahrenen Eltern können mindestens einen Unfall des eigenen Kindes erwähnen, wo ein Erwachsener in Aufsichtspflicht unmittelbar neben dem Kind oder Klettergerüst gestanden ist und sich trotzdem ein kleineres oder größeres Missgeschick nicht verhindern ließ.

Realitätsfremdes Fehlurteil

Ich selbst habe erlebt, wie mein motorisch sonst fitter (damals) vierjähriger Sohn beim Fußballspielen über den Ball getreten ist und unglücklich auf einer steinigen Fläche mit Kopfverletzung landete, wodurch er sich eine Gehirnerschütterung zuzog. Selbst in hinsichtlich des Personalschlüssels bestens aufgestellten Kindergärten kann es vorkommen, dass ein Kind im geschützten Gruppenraum stolpert und seinen Kopf gegen ein Regal stößt, wonach die Wunde in der Ambulanz genäht werden muss. Ich möchte solche Unfälle selbstverständlich nicht bagatellisieren, aber es sollte uns allen aufsichtspflichtigen Erwachsenen – Eltern wie Pädagogen – und auch den Richtern klar sein, dass nicht alle Gefahren des Lebens vermeidbar sind – vor allem nicht im Alltag mit Kindern – und es auch nicht unsere Erziehungsaufgabe ist, alle Gefahren des Lebens aus dem Weg der Kinder zu räumen.

Das OGH-Urteil ist meiner Einschätzung nach also aus dem Grund ein Fehlurteil, weil es aus dem Verhalten eines "maßgerechten" Menschen als Aufsichtspflichtigen ausgeht, den es nicht geben kann. Es ist realitätsfremd, jede kleine Gefahr auszuschließen. Den hohen Maßstab dieses ideellen "maßgerechten" Menschen könnten sogar Richter nicht erfüllen.

Bessere Betreuung statt weniger Bewegung

Was wir anlässlich dieses Urteils – statt der vorgeschobenen Diskussion über ein allfälliges Turnverbot – besprechen sollten, sind die eklatanten Mängel im Betreuungsschlüssel und diesbezügliche Regelungen der Länder. In Wien sind beispielsweise für eine Kindergartengruppe von maximal 25 Kindern anderthalb Vollzeitäquivalente als Stellen in Betreuung vorgeschrieben. Es kann also vorkommen, dass eine Pädagogin die Hälfte des Tages mit mehr als 20 Kindern allein ist. Dem idealen "maßgerechten" Menschen können wir in so einem Fall viel Glück bei der Beaufsichtigung von mehr als 20 jungen Mitmenschen, inklusive Gefahreneinschätzung und Vermeidung von allfälligen Unfällen, wünschen. In der Steiermark, wo sich der vor dem OGH gelandete Fall abgespielt hat, sind laut aktueller Fassung des Steiermärkisches Kinderbildungs- und Betreuungsgesetzes (StKBBG) 25 Kinder "während der gesamten täglichen Öffnungszeit durch mindestens eine Kindergartenpädagogin/einen Kindergartenpädagogen, dazu mindestens eine Person aus dem Stand des pädagogischen Hilfspersonals" zu betreuen. Auch dies ist aber noch weit von dem Betreuungsschlüssel entfernt, wie ihn beispielsweise die EU empfiehlt und wie ein wirtschaftlich starkes Land wie Österreich (gemessen an BIP) durchaus fähig sein sollte und tatsächlich wäre zu verwirklichen, wenn der Wille da wäre.

Interessanterweise hat das Höchstgericht die Verletzung der Aufsichtspflicht nach StKBBG gar nicht betrachtet. Warum? Weil dann sichtbar wäre, wie wenig Personal in der landeseinschlägigen Kindergartenregelung vorgeschrieben wird? Weil sich dann eindeutig zeigen würde, dass die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht mit solch niedrigem Personalschlüssel eine Sache der physischen Unmöglichkeit ist? Statt wohlwollende Pädagoginnen zu erschrecken, die dann aus Angst vor künftigen Klagen die Bewegungsmöglichkeiten der Kinder einschränken, sollten sich die Bemühungen mehr darauf richten, wie eine Betreuung gewährleistet werden kann, die nicht schon strukturell eine teilweise Vernachlässigung der Aufsichtspflicht mit sich bringt.

Welche Frage der Fall noch aufwirft

Die Frage, die wir uns darüber hinaus noch stellen sollten ist, wie es überhaupt zu Instanzenzug und landesweiter Aufregung in einem scheinbar nicht außergewöhnlichen Unfall kommen konnte. In so einem Fall wäre kooperative Kommunikation und Konfliktlösungspotenzial seitens des Kindergartenträgers gefragt. Ein Terrain, in dem nicht selten weder Pädagoginnen, noch Leitung entsprechend ausgebildet sind – was nicht deren Schuld ist. Im Idealfall könnte man sich außergerichtlich mithilfe von Mediatoren auf einen Schadenersatz einigen. Dass dieser Fall bis zum Höchstgericht gekommen ist, bedeutet ein Alarmsignal dafür, dass die effektive Kommunikation auf allen Ebenen fehlt. Die Eltern wissen nicht, dass die meisten Träger sich aus häufig engem Budget nur die gesetzlichen Mindestanforderungen an Personal leisten können.

Was es statt weniger Bewegung, mehr Vorsicht oder noch mehr Klagen durch Eltern meiner Meinung nach jetzt braucht ist eine lösungsorientierte Einstellung und konsequentes Handeln:

  • Den Richtern signalisieren, dass die höchstgerichtlichen Einschätzungen angesichts der aktuellen Realität im elementarpädagogischen Bereich lebensfremd sind. Es wäre höchst kontraproduktiv, wenn der Richtsatz des OGH-Urteils Grundlage künftiger Entscheidungen wäre und Schule machen würde.
  • Im Rahmen der Elternbildung informieren, was Kinder altersadäquat zur optimalen Entwicklung brauchen und was die Betreuungsinstitution dafür in den gegeben gesetzlichen, institutionellen Rahmen tun kann, beziehungsweise was gegebenenfalls aus Sicht des jeweiligen Personalschlüssels überhaupt möglich ist.
  • Den Pädagogen helfen, Tools zur effektiven Konfliktlösung auf Erwachsenenebene an die Hand zu geben und dies auch als integralen Bestandteil ihrer Ausbildung zu verankern.
  • Endlich einmal bundesweit einheitliche Qualitätsstandards und den forschungsbasierten Empfehlungen entsprechende Betreuungsschlüssel einführen sowie die Bildungsqualität im elementarpädagogischen Bereich massiv erhöhen. (Monika Kosa, 17.10.2017)