Ein Ort des Sichtens und Sortierens: In der Fotosammlung einer der weltgrößten Bibliotheken.

"Ich drehe Filme über das, was mich interessiert und meinem sehr weit verstandenen Begriff einer Institution entspricht."

Frederick Wisemans Begriff einer Institution ist seit mittlerweile 50 Jahren zum Glück weit genug, um einige der bedeutendsten Arbeiten des dokumentarischen US-Kinos geschaffen zu haben. Seit seinem Debüt Titicut Follies (1967) über die Behandlung von psychisch kranken Patienten in einer ehemaligen Anstalt für geisteskranke Straftäter in Massachusetts gilt der heute 87-jährige Wiseman als einer der wichtigsten Chronisten institutioneller Macht.

Im Laufe der Jahre hat der umtriebige Autodidakt sein Interessenfeld nicht nur kontinuierlich erweitert, sondern dabei auch immer wieder der Frage nachgespürt, wie sich demokratische Gesellschaften zu ihren Institutionen verhalten und sich in diesen abbilden: in Schulen (High School), Universitäten (At Berkely), Krankenhäusern (Near Death), Polizei (Law & Order), Sozialamt (Welfare) oder sogar im Zoo (Zoo).

Zipporah Films

Dass sich Wiseman mit seinem jüngsten Eintrag Ex Libris – The New York Public Library einer der größten Bibliotheken der Welt widmet, war in dieser Hinsicht wohl bloß eine Frage der Zeit. Denn auch Wissen ist Macht, und die Frage, die Wiseman beschäftigt, ist jene nach der Weitergabe und Vermittlung derselben. Wie gestalten sich die Strukturen einer öffentlichen Bibliothek, die dazu ausgerichtet ist, das (amerikanische) Volk zu bilden? Und mit welchen Anforderungen ist eine moderne Dienstleistungseinrichtung, die sich dem digitalen Zeitalter stellen muss, konfrontiert?

Wiseman ist ein präziser Beobachter, der selbst in seinen Studien über die Mechanismen des großen Ganzen nie den Blick für Details verliert – oder gerade deshalb diese in den Mittelpunkt rückt wie Nebensächlichkeiten, die als Zahnräder ineinandergreifen. In Ex Libris sind das gleich zu Beginn etwa Telefonate, die die Mitarbeiter führen, um den Anrufern in verschiedensten Gebieten Auskunft zu erteilen: Geschichte, Wirtschaft, Politik, Kunst und Mythologie – die dummen Fragen, sie gibt es hier nicht. Denn im Zentrum seiner Untersuchung stehen, wie so oft in seinen Arbeiten, die Menschen, die Teil dieses System sind, in ihm arbeiten und sich seiner bedienen.

Spielerischer Unterricht

Wiseman verfolgt Gespräche, Lesungen und Vorträge, durchmisst die Räume und Büros, die Lesesäle und die Außenstellen der Public Library, wo sich der Servicecharakter als besonders dringliches, weil auch soziales Moment zeigt: In Jobkursen liefern hier verschiedene Berufstätige, von der Krankenpflegerin bis zum Feuerwehrmann, Einblicke ins Berufsleben, Kinder und Jugendliche spielerisch werden unterrichtet. Und Wiseman lässt sich dabei wieder einmal Zeit: Mit 196 Minuten bleibt er seinem Ruf als epischer Dokumentarist treu. Das betrifft auch seine verstärkte Hinwendung zu Orten der Kunst und Kultur, die er in den vergangenen Jahren mit Filmen über die Pariser Oper (La Danse) oder das Museum (National Gallery) vollzogen hat – eine Reihe, in die sich Ex Libris bestens einfügt.

Wisemans Zugang ist dabei jedoch derselbe geblieben. Der Schule des Direct Cinema geschuldet, verzichtet Wiseman selbstverständlich – wie immer – auf Kommentare und Interviews, seine Wirklichkeit ist eine von ihm direkt erlebte, sie wird in den Bildern selbst spürbar und mutet von Wiseman als selbst intuitiv erfahren an. So ging auch Ex Libris keine akribische Recherche voraus, sondern zeugt von Unmittelbarkeit und Direktheit.

Das Gebäude in der Fifth Avenue, das man nur kurz in einer Außenansicht zu sehen bekommt, ist kein Hort der Weisheit, sondern ein Ort der gelebten Demokratie. (Michael Pekler, 14.10.2017)