In einem Moment der Gnade kehrt der Verfolgte zum Verfolger zurück. Mitten in der Wüste hätte die Jagd eine Wendung finden können, doch Sam Kelly (Hamilton Morris) zeigt Erbarmen – ausgerechnet mit jenem Mann, der ihn und seine Frau erbarmungslos quer durchs Land gehetzt hat.

Warwick Thorntons Sweet Country, beim Festival von Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, erzählt eine klassische Geschichte in ungewöhnlichem Setting und Tonfall: Der Aborigine Kelly hat in Notwehr einen weißen Mann erschossen, man schreibt das Jahr 1929, und auf Kelly wartet der Galgen. Gesetz und Richter sind fern, die rachsüchtige Posse immer nah. Doch eine neue Zeitrechnung beginnt.

Auf der Flucht: Hamilton Morris und Natassia Gorey-Furber retten sich in "Sweet Country" ins australische Outback.
Transmission Films

Thornton machte bereits vor einigen Jahren mit seinem so bedrückenden wie großartigen Jugenddrama Samson and Delilah, in dem sich zwei 14-jährige Aborigines aus ihrem Heimatdorf in die Großstadt absetzen, auf sich aufmerksam. In Sweet Country dient ihm das Motiv der Flucht nun dazu, von jenem dunklen Kapitel in der Geschichte Australiens zu erzählen, in dem Kolonialismus und Sklaverei miteinander einhergingen. Die indigenen Australier verdingen sich als Feldarbeiter auf den Farmen der Weißen, während diese wiederum das karge Land rücksichtslos auspressen.

Doch Thornton erhebt keine direkte Anklage, sondern sucht auch nach Zwischentönen: etwa in der Figur von Sam Neill als strenggläubigem Landbesitzer, der sich von Kelly nicht "Master" nennen lassen möchte; und sogar in der Figur des vom Krieg in Europa traumatisierten, brutalen Weißen.

Mit schlaglichtartigen Vor- und Rückblenden hält Thornton aber auch die formale Spannung dieses Outback-Western aufrecht und verleiht Sweet Country dadurch eine beinahe traumhafte innere Logik. Mit plötzlichem Erwachen. (Michael Pekler, 18.10.2017)