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"Erdoğanofobi" heißt der Titel eines neuen Buches, das derzeit in Istanbuler Läden aufliegt. Die Furcht der Politik vor Tayyip Erdoğan – so der Untertitel – ist nur eine weitere Porträtarbeit, die sich dem türkischen Präsidenten andient. Doch sie erklärt unfreiwillig, warum die permanente Kampfansage an die Europäer für den autoritär regierenden Staatschef in Wahrheit hervorragend aufgeht: viel Feind, viel Ehr' eben.

Die Erdoğan-Phobie, so erklärt der Autor Abdülkadir Özkan, ist im Grunde nur die Islamphobie und Türkeifeindlichkeit des "faschistisch werdenden" Westens, die sich in der Person eines besonders erfolgreichen Politikers konzentrieren. Und genauso sollen es die Wähler in der Türkei verstehen.

"Unser Feind", der Westen

"Wir brauchen euch nicht", schleuderte Erdoğan erst vergangene Woche wieder dem Westen entgegen – an dem einen Tag den USA, am folgenden der Europäischen Union. Er baut mehr und mehr die Vorstellung vom Westen als "unserem Feind" aus, sagt Toni Alaranta, ein Türkei-Spezialist am finnländischen Institut für Internationale Angelegenheiten. Das ist am Ende auch nur die Sicht von Millî Görüş, der nationalislamischen, konservativen Bewegung, aus der Erdoğan stammt. Die antiwestliche Stimmung in der Türkei sei nun so verbreitet, das sie weit über die AKP, die Partei des Präsidenten, hinausreiche, sagt Alaranta.

Auch Emre Erdoğan, ein Politikprofessor an der Istanbuler Bilgi-Universität und Leiter des Forschungsinstituts Infakto, sieht diesen Trend. Er spricht von den Mauern, die Tayyip Erdoğan nach außen errichtet, von der Konsolidierung seiner Wählerschaft, um die sich der Staatschef bemüht und der er weismachen will, dass die Türkei vom Ausland bedroht werde. Drei Wahlen stehen spätestens 2019 an. Tayyip Erdoğan muss sie alle wieder gewinnen, und zwar deutlich, sonst funktioniert das Einmannsystem nicht, das er sich mit dem Verfassungsreferendum im Frühjahr verschafft hat.

Streitfrage Suspendierung

Beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag wird auch die Türkei ein Thema sein wie schon zu Beginn der Woche beim Treffen der Außenminister. Österreich und Deutschland drängen auf mindestens ein Aussetzen der Beitrittsverhandlungen mit Ankara. Niemand könne übersehen, dass die Türkei die politischen Kriterien von Kopenhagen für EU-Beitrittskandidaten nicht mehr erfülle, sagt Alaranta – "und zwar schon seit etwa fünf Jahren, nicht erst seit dem Putsch von 2016".

Doch die Europäer sind ja keineswegs geschlossen in dieser Frage. Finnland, Polen, Ungarn oder auch Griechenland würden – aus unterschiedlichen Erwägungen – gegen ein Aussetzen der Beitrittsverhandlungen stimmen. Ein wirklicher Neubeginn mit Ankara, ein radikales Neudenken des Türkei-Beitritts seien nötig, sagt Alaranta, dafür aber fehle in der derzeitigen Phase der Stagnation die politische Unterstützung.

Der "Anker" der Türkei

Türkische Politikwissenschafter wie Hasan Köni bemühen nun gern das Bild des Ankers, des "çapa" oder "çıpa": Das Thema EU-Mitgliedschaft sei der letzte Anker, an dem die Demokratie in der Türkei noch hänge. Oder die Wirtschaftspolitik der Türkei, so heißt es, sei so sehr in der EU verankert, dass ein Zusammenbruch der Beziehungen weder gewollt noch möglich sei.

Konferenzen zu Gegenwart und Zukunft der Beitrittsperspektive wechseln sich an den größeren privaten Istanbuler Universitäten ab, was das Interesse oder die Sorgen der kleinen prowestlichen, politisch liberal eingestellten Minderheit im Land zeigt. Doch diese Veranstaltungen sind gleichzeitig zu einem Balanceakt geworden. Die Auswahl der Redner ist sorgsam überlegt. Teilnehmern von Paneldiskussionen ist anzumerken, wie vorsichtig sie nun formulieren. Viele – türkische, aber auch ausländische – Fachleute lehnen es ab, von Medien zitiert zu werden. Das hat es in der Türkei zuletzt in der Zeit der Militärherrschaft nach dem Putsch von 1980 gegeben. Zu groß ist aber jetzt, seit der Verhängung des Ausnahmezustands im Sommer 2016 und den Massenverhaftungen, die Furcht, wegen einer Aussage als angebliches Mitglied der Gülen-Bewegung oder als "ausländischer Agent" denunziert zu werden.

Misstrauen gegenüber Europa

Schuld daran haben sehr wohl auch die Europäer. So sieht es Emre Erdoğan, der Istanbuler Politologe. Die ausgebliebene Solidarität nach dem Trauma des Militärputschs im Juli vergangenen Jahres und der langen Serie von Terroranschlägen in der Zeit davor ist unvergessen. Das Drohen der Deutschen mit Sanktionen, jetzt, wo die Demokratie in der Türkei wacklig ist, bestärke die Türken auch nur in ihrem Eindruck: Europa unterstützt die Putschisten.

Für die "Erdoğan-Phobie" hat der türkische Politikwissenschafter eine andere, nicht auf das Ausland, sondern auf den türkischen Seelenzustand zielende Beschreibung. Emre Erdoğan nennt es das "Sèvres-Syndrom", so benannt nach dem Vertrag im Pariser Vorort Sèvres 1920. Das Osmanische Reich ist damals zerstückelt worden. Das Misstrauen, die Furcht der Türken vor dem Ausland habe darin ihren Ursprung. "Wir reproduzieren dieses Syndrom seither in unseren Schulen, der Gesellschaft, in der Rhetorik unserer Politiker", sagt Emre Erdoğan. Jetzt spielt der türkische Staatspräsident mit Erfolg auf dieser Klaviatur. "Wir brauchen euch nicht" ist eine Ansage, die sich weit weniger an die Europäer als an die Türken in seinem Land richtet. (Markus Bernath, 16.10.2017)