Wien – Es ist nicht wahr, dass Massimo nicht glauben kann, dass seine Mutter gestorben ist. Sondern er will es nicht glauben. Neun Jahre ist er alt, als er aus dem Nebenzimmer das laute Geräusch von zerbrechendem Glas hört. Später sitzt er mit dem Vater in der Kirche, hinter ihnen eine riesige, schneebedeckte Krippenlandschaft mit funkelnden Sternen. Gott habe die Mutter zu sich gerufen, damit sie ihn als Engel besser beschützen könne, erklärt ihm der Priester. Das würde sie nie tun, entgegnet Massimo. Sie würde ihn nie freiwillig verlassen haben.

Festgehalten werden, um loslassen zu können: Valerio Mastandreo und Bérénice Bejo in Marco Bellocchios eindrucksvollem Filmdrama "Träum was Schönes".
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Fai bei sogni (Träum was Schönes) heißt dieser Film, für den der italienische Altmeister Marco Bellocchio für jede Szene die perfekte und eine oft tatsächlich traumhaft schöne Komposition gefunden hat. Wenn Massimo dem Dienstmädchen, das der Vater für ihn engagiert hat, den Kopf auf die Schulter legt und sie ihn sanft, aber bestimmt zurückweist; wenn er sich in den Rückblenden an die Mutter erinnert, die mit ihm ausgelassen Twist getanzt und ihn sanft in den Schlaf geküsst hat. Oder wenn er sich später im Film, mittlerweile als erfolgreicher Sportreporter (Valerio Mastandrea), auf den ersten Blick in die bildhübsche Ärztin Elisa (Bérénice Bejo) verliebt. Momente des größten Unglücks und solche des größten Glücks.

Fai bei sogni basiert auf der autobiografischen Vorlage des Turiner Autors Massimo Gramellini, dessen Schriften stark vom Verlust der Mutter im Kindesalter geprägt sind. Die Sechzigerjahre, in denen Roman und Film einsetzen, sind jenes Jahrzehnt, in dem auch Bellocchio seine ersten Filme realisierte. Mit sozialkritischen Arbeiten wie Mit der Faust in der Tasche hat sich der heute knapp 80-Jährige über die italienischen Grenzen hinaus einen Namen als widerständischer, politischer Regisseur gemacht. Und auch den kleinen Massimo kann man sich gut mit geballter Faust vorstellen, wenn er sich wider besseren Wissen gegen die Wahrheit stemmt.

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Die Lösung des Familiengeheimnisses am Ende des Films spielt für die Erzählung eine nur untergeordnete Rolle. Viel entscheidender ist der Verlust und dessen Verleugnung für diesen Lebensentwurf. Es ist eine italienische Nachkriegsgeschichte, in der Bellochio die individuelle Verdrängungsarbeit Massimos mit jener der Gesellschaft kurzschließt – und zwar nahezu schnörkellos.

Aufbruch in die neuen Zeiten

Die französisch-argentinische Starschauspielerin Bejo (The Artist), von Bellocchio mit einer Nebenrolle bedacht, meinte in einem Kritikergespräch, man könne von diesem Filmemacher, der am Set manchmal wie ein zorniger junger Mann auftrete, so viel lernen wie von kaum jemand anderem. Und dass Bellocchio wie kaum jemand anderer persönlich für seine Filme einstünde. Tatsächlich ist Fai bei sogni nicht nur eine Autobiografie, sondern auch eine sehr persönliche Arbeit Bellocchios, in der sich das Lebensgefühl einer Generation spiegelt. Es ist der Wunsch nach dem Aufbruch in eine neue politische Zeitrechnung, der hier spürbar wird, der aber mit dem Gefühl einhergeht, das Erbe der Elterngeneration nicht loswerden zu können.

Trügerisch in ihrer fantastischen Archaik sind etwa die Aufnahmen des Belphégor, einer unheimlichen, schwarzen Kapuzengestalt aus der gleichnamigen Fernsehserie, die der Bub mit seiner Mutter sieht und die Massimo ein Tor in einen irrealen Rückzugsraum öffnet. Wenn er später in einer Episode als Reporter im Jugoslawienkrieg mit der Manipulation von Bildern konfrontiert wird, schließt sich der Kreis: Die Wahrheit bleibt trügerisch.

Mühelos erzählt Fai bei sogni von einer der größten menschlichen Anstrengungen: vom Loslassen. Erst wenn für Massimo die Illusion zerstört wird, geht für ihn ein neues Tor auf. Was bleibt, nennt man Erinnerung. (Michael Pekler, 20.10.2017)