Strenge Grenzkontrollen an der Schleuse zum ehemaligen "Postkasten Nummer fünf".

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Die pensionierte Chemikerin Ljubov mit Enkelin Mascha.

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Eine der zwei verbliebenen, in der UdSSR streng geheimen Plutoniumfabriken.

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Es ist kalt an der Schleuse. Autoschlangen blasen Abgase in den ausklingenden Nachmittag, die Schritte der wenigen Fußgänger knirschen auf dem hartgefrorenen Schnee. Grenzbeamte in Kaki und Pelzhauben regeln den geordneten Ablauf der täglichen Rushhour. Die Bilder erinnern an eine gut bewachte Staatsgrenze, doch auf beiden Seiten des CKPP, des "Zentralen Kontroll-Durchlasspunktes", liegt russisches Territorium.

Eine Pensionistin, die an der Busstation vor der Schleuse Zedernkerne verkauft, trippelt grimmig näher: "Fotografieren verboten!" Das Wachpersonal selbst sieht erhobene Kameras aus angemessener Entfernung dagegen eher gelassen.

Abgeschottete Stadt

Der weitläufige, doppelte Stacheldrahtzaun rund um die Stadt Sewersk schneidet einen 485,7 Quadratkilometer großen Kreis aus der Region Tomsk. Das ist um ein Sechstel mehr als die Fläche Wiens, lächerlich wenig im Vergleich zur gigantischen westsibirischen Tiefebene. 108.000 Menschen leben hinter diesem Zaun – ein Zwergstaat mit der Einwohnerzahl Klagenfurts.

Sewersk ist nicht zugänglich, weder für Ausländer noch für Russen. Einen Besuchsschein bekommen nur enge Verwandte der Bewohner.

Eine Tafel an der Schleuse weist das Gebiet als "Zato" aus. "Geschlossenes administrativ-territoriales Gebilde" lautet die sperrige Bezeichnung hinter der Abkürzung übersetzt. Dabei handelt es sich um Orte, zu denen man aufgrund ihrer Bedeutung für Energieversorgung, Militär oder Raumfahrt der Russischen Föderation keinen Zutritt hat.

44 Städte Russlands besitzen diesen Status heute. Sie alle wurden in der Hochphase des Kalten Krieges unter strengster Geheimhaltung in dünnbesiedelten und unzugänglichen Regionen errichtet, neben Sibirien etwa im Ural und am Polarmeer. In der Sowjetunion existierten sie offiziell nicht, hatten keine Namen und waren nicht auf Karten verzeichnet. Den Einwohnerinnen und Einwohnern war es verboten, über ihre Arbeit und ihren Wohnort zu sprechen, wenn sie die Zatos verließen.

Kalter-Kriegs-müde

Wie ein großer Teil seiner Bewohner ist Sewersk selbst in Pension und blickt mit behäbiger Zufriedenheit auf die große Vergangenheit zurück. 1949 gab Stalin den Befehl, im Marschland nördlich von Tomsk ein Kombinat zur Plutoniumherstellung aus dem Boden zu stampfen. Sümpfe wurden aufwendig trockengelegt, die Einwohner zweier jahrhundertealter Dörfer umgesiedelt.

Die jungen Absolventen technischer Hochschulen wurden mangels passender Ausbildungsstätten für atomares Knowhow direkt vor Ort, parallel zum Bau des Kombinats, in 26 Disziplinen unterwiesen. Straßen und Wohngebäude wurden gebaut, es folgten Schulen, Theater, Geschäfte und eine Schmalspurbahn. In wenigen Jahren eignete sich der "Postkasten Nummer fünf", wie die codierte Adresse der Stadt lautete, alle Kennzeichen von Urbanität an.

In Büchern über die Stadtgeschichte wird gern das in Sibirien beliebte Image von hart arbeitenden Ärmelhochkremplern hochgehalten. In den Erzählungen von Pensionisten wird die Gründerstimmung greifbar, die in ihrer Jugend geherrscht haben muss und auf bemerkenswerte Weise an den Geist Amerikas erinnert.

Die "Frontier" der USA, die im 19. Jahrhundert Jahr für Jahr weiter in den Westen geschoben wurde, spiegelt sich in der Geschichte Sibiriens wider. Auch hier wurde der schier unendlichen Wildnis über Jahrhunderte hinweg europäisch geprägte Zivilisation abgerungen, die Handelsrouten wurden vom Ural weg immer weiter in den Osten getrieben, Stützpunkte und Infrastruktur wurden errichtet.

Plutioniumherstellung

Das "Sibirische Chemiekombinat" von Sewersk war in den späten 1950er-Jahren der "größte Atomkomplex des Planeten", behauptet ein Bildband über die Stadt. Plutonium wird auch heute noch hergestellt, doch in Kürze nur noch in einer von ehemals vier Fabriken. Früher wurden damit Atomwaffen bestückt, heute ist Sewersk Lieferant für Atomstrom und Endlager für französischen Atommüll.

Dass der ehemalige "Postkasten Nummer fünf" deshalb dem Beispiel anderer Zatos folgt und bald eine gewöhnliche, offene Stadt wird, glauben die meisten Bewohner jedoch nicht.

"Das wird niemals passieren", meint Englischlehrerin Irina*, eine gebürtige Sewerskerin. "Die Einwohner würden es nicht zulassen, ihnen gefällt der Istzustand. Es gibt keine Fremden, es ist ruhig und leise. Man kann das Auto überall stehenlassen, die Kriminalitätsrate beträgt beinahe null."

Kehrseite der Medaille

Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Stadt heute für junge Menschen wie die 1992 geborene Olga wenig attraktiv ist. Obwohl es in ihrer Heimatstadt Sewersk eine Universität gibt, hat sie sich wie die meisten Jugendlichen für ein Studium in der boomenden Metropole Tomsk entschieden. Schon als Kind besuchte sie dort wöchentlich Freunde, mit dem Erwachsenwerden steigerte sich die Anziehungskraft des Kreiszentrums.

"Kulturveranstaltungen und Nachtleben gibt es in Sewersk zwar auch, in Tomsk ist es aber einfach besser." Sie erinnert sich auch, in ihrer Kindheit oft Freunde zu sich nach Hause eingeladen zu haben, heute ein Ding der Unmöglichkeit.

Mit der Perestroika 1987 wurden einige Besuchsbeschränkungen aufgehoben, in der Dekade bis Ende der 90er war die Grenze so durchlässig wie nie zuvor und danach. Der Aufwand, jemanden aus Tomsk oder auch aus dem Ausland einzuladen, war auf ein Minimum beschränkt. In den beginnenden 2000er-Jahren wurden einige der Einreiseerleichterungen wieder rückgängig gemacht, ein neuerliches Verstecken der Stadt wäre in Zeiten von Google Maps und Co aber sinnlos.

Goldener Käfig

Die jungen Ingenieure, Techniker, Physiker und Chemiker, die ab den 1950ern aus der ganzen UdSSR nach Sewersk kamen, sind heute Pensionisten, die das geruhsame Leben in der Stadt dem lauten und boomenden Tomsk vorziehen. Eine von ihnen ist Ljubov.

Die rüstige Mittsechzigerin wurde als Tochter einer russischen Melkerin und eines deportierten Wolgadeutschen in der südsibirischen Region Altai geboren, in jungen Jahren kam sie zu Verwandten in die geschlossene Stadt. Für sie ist das Interesse an der Zato vollkommen unverständlich.

"Man arbeitet hier frei, gut und wie überall anders auch. Wir merken gar nicht, dass wir von Stacheldraht umgeben sind. Es ist nur ruhiger als anderswo, und es herrscht mehr Ordnung."

Bis zu ihrer Pensionierung vor acht Jahren war sie im Kombinat beschäftigt, in besondere Geheimnisse war sie jedoch im Gegensatz zu ihrem verstorbenen Mann nicht involviert. Durch seine Hände ging alles, was in den Fabriken produziert wurde. Sein Wissen galt als Staatsgeheimnis, neben einer Verschwiegenheitserklärung war ihm auch ein Verbot, ins Ausland zu reisen, auferlegt.

Besuchserlaubnis

Wenn Ljubov Besuch von ihrer Enkelin Mascha bekommen möchte, stellt sie einen Antrag in einer eigenen Behörde, dem "Büro für Passierscheine". Es erfolgt eine Überprüfung, ob das angegebene Verwandtschaftsverhältnis tatsächlich besteht. Die Bearbeitungsfrist beträgt eine bis zwei Wochen, die erteilte Erlaubnis gilt für drei Monate.

Vor der Perestroika hatte man nur einmal im Halbjahr das Recht, jemanden einzuladen, wie sie beinahe gleichmütig erzählt. Heute gibt es keine Beschränkungen mehr, wenn die Erlaubnis ausläuft, kann man sie einfach verlängern lassen. Ihre Enkelin setzt hinzu, dass es seit ein paar Jahren auch möglich ist, als Teil einer Sport- oder Künstlergruppe in die Stadt zu gelangen.

Neben der Hauptschleuse existieren fünf weitere "Kontroll-Durchlasspunkte". Bei einer Einreise in den "Postkasten" mit dem öffentlichen Bus müssen alle Passagiere am CKPP für die Kontrolle aussteigen und einen speziellen Ausweis vorzeigen. Wer wie Ljubov älter als 60 ist, darf sitzen bleiben. Bei ihr begnügen sich die Beamten mit einem durch die Fensterscheibe gezeigten Ausweis.

Atomarer Unfall

Nicht alle sind so glücklich mit ihrem Leben in der geschlossenen Stadt. Die gebürtigen Ukrainer Jura und Stella wohnten zweieinhalb Jahrzehnte in Sewersk, vor fünf Jahren wechselte das Ehepaar mit den beiden Söhnen auf die andere Seite des Stacheldrahtzaunes. Die umständliche Prozedur, Freunde und Verwandte aus der alten Heimat einzuladen, hatte sie zu dem Entschluss gebracht. Nun führen sie eine kleine Gaststätte wenige hundert Meter von der Hauptschleuse entfernt.

Jura ist ehemaliger Offizier der Roten Armee. Als er nach dem Zusammenbruch der UdSSR auf die neue Verfassung Russlands hätte schwören sollen, hat er seinen Hut genommen. "Man hat ja Prinzipien", sagt er. Wie seine Frau gehört er zu den Nostalgikern, die gern in den vermeintlich stabileren Verhältnissen der Sowjetunion schwelgen.

Als 1993 in Sewersk ein Tank mit einer radioaktiven Lösung explodierte, war Jura diensthabender Chef des staatlichen Sicherheitsdienstes in der geschlossenen Stadt. Innerhalb des "Postkastens" wurde niemand informiert, erzählt er. Er selbst hätte es von Verwandten erfahren. "In der Ukraine haben sie es schon im Fernsehen gebracht, aber in Sewersk selbst hat keiner was gewusst." Einem der Ersthelfer, die den Tank reparieren wollten, mussten später aufgrund der Verstrahlung beide Beine abgenommen werden, wie sich Jura mit Schaudern zurückerinnert.

Englischlehrerin Irina wohnt nach wie vor in Sewersk. Sie hat das Kombinat – wie die meisten jüngeren Einwohner – noch nie gesehen. Es ist innerhalb der weitläufigen Umzäunung noch einmal rund 15 Kilometer von der Stadt entfernt, das Einsteigen in die Transitbusse ist nur den Angestellten erlaubt. Deren Zahl sinkt sukzessive, heute geht nur mehr ein kleiner Teil der Arbeitsplätze im ehemaligen "Postkasten" auf das Konto der beiden verbliebenen Fabriken.

Die Strenge der Grenzkontrollen tangiert das bislang nicht. Behalten die Einwohner recht, bleibt Sewersk auch in den nächsten Jahren eine geschlossene Stadt – nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Gewohnheit. (Florian Supé, 29.10.2017)