Da waren Jubel und Begeisterung noch groß: Adolf Hitler am 9. April 1938, dem Tag des Großdeutschen Reiches, während einer Parade auf der Ringstraße.

Kurt Bauer, Zeithistoriker und Autor der ersten umfassenden NS-(Alltags)Geschichte Österreichs.

Chris Mavric

Kurt Bauer, "Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938-1945". € 17,50 / 480 Seiten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2017

Am Cover: Jubelnde Menschen beim Hitler-Besuch in Graz im April 1938.

Leseprobe des Buchs

Noch ein Buch über den Nationalsozialismus in Österreich, werden manche jetzt seufzen. Haben Zeithistoriker fast 80 Jahre nach dem "Anschluss" nicht längst schon alles von 1938 bis 1945 erforscht? Nein, sagt Kurt Bauer, ihm würden noch viele offene Fragen einfallen.

Erklärungsbedürftige Opferzahlen

Zum Beispiel die, warum in Relation so viel weniger Soldaten aus Österreich im Zweiten Weltkrieg starben als aus Deutschland. Gewiss, auch die Anzahl der gestorbenen österreichischen Soldaten ist mit 261.000 erschreckend hoch. Doch wäre ihre Todesrate so hoch gewesen wie die der deutschen Soldaten, würde die Zahl bei 425.000 liegen.

Waren die Österreicher weniger stramme Nazis als die Deutschen? Bis der Zeithistoriker am Ende seines neuen Buchs, das unter dem Titel "Die dunklen Jahre" als wohlfeiles Taschenbuch dieser Tage bei S. Fischer erschien, zu dieser Frage kommt, hat er bereits 400 Seiten über Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich geschrieben. Und man glaubt es kaum: Dieses mitreißende Werk ist erst die zweite Monografie, die eine solche Gesamtdarstellung bietet – sowie die überhaupt erste, die auch alltagsgeschichtliche Aspekte stark miteinbezieht.

Vorarbeiten seit 20 Jahren

Bauer, der aus einem kleinen Ort in der Obersteiermark stammt und seit vielen Jahren in Wien lebt, hat über zwei Jahre an seinem Werk geschrieben – aber schon seit zwei Jahrzehnten Vorarbeiten dazu geleistet: Bereits in seiner Diplomarbeit vor 20 Jahren befasste er sich auf der Basis von lebensgeschichtlichen Dokumenten mit den illegalen Nazis in seiner engeren Heimat.

Seine Dissertation über den Juli-Putsch der Nationalsozialisten 1934, die 2003 unter dem Titel "Elementar-Ereignis" als Buch erschien, gewann den Bruno-Kreisky-Preis. In "Hitlers zweiter Putsch" (2014) gelang Bauer der Nachweis, dass der "Führer" von Deutschland aus das Attentat auf Dollfuß in Auftrag gab. Und dazwischen schrieb der heute 56-Jährige, der im zweiten Bildungsweg zur Zeitgeschichte kam, eine Einführung in den Nationalsozialismus.

Unparteiischer Blick auf die Geschichte

Mit seinen bisherigen Büchern machte sich Bauer nicht nur deshalb einen Namen, weil sie gründlich recherchiert und gut geschrieben sind. Da der Historiker darin immer wieder auch konservative wie auch linke Mythen und Traditionen infrage stellt, entzieht er sich auch einer politischen Punzierung – und machte sich damit nicht nur Freunde.

Diese Qualitäten kommen auch in seinem neuen Werk zum Tragen, in dem Bauer auf geschickte Weise die Ebene der politischen Ereignisgeschichte mit der Ebene der Alltagsgeschichte verbindet. Seine Darstellung lebt von und durch die Erzählungen gewöhnlicher Österreicher, deren Tagebücher und Erinnerungen meist aus der "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen" am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Uni Wien stammen.

Drei von vielen Schicksalen

Die knapp 20 Personen, deren Schicksale Bauer genauer verfolgt, sind gut gewählt: Da ist etwa Richard Ruffingshofer, ein begeisterter Nazi, dessen Euphorie über den "Anschluss" ab 1939 immer größerer Skepsis weicht. Aufgrund seines neu erwachten Österreich-Bewusstseins tauft er seinen Sohn entsprechend nicht Adolf, sondern Eugen.

Eine andere eingeflochtene Lebensgeschichte ist die von Mignon Langnas, die als jüdische Krankenschwester die NS-Zeit in Wien überlebt und eindrücklich von der grausamen Verfolgung ihrer jüdischen Verwandten und Bekannten berichtet.

"Richtiggehend verliebt" habe sich Bauer, wie er im Gespräch erzählt, in Stephanie Bamer und deren Erinnerungen. Die 1919 geborene Wienerin studiert neben ihrer Anstellung als Postbeamtin Jus und erweist sich als besonders aufrichtige Beobachterin und NS-Gegnerin.

Eigene Familiengeschichten

"Geschichte ist immer auch die Geschichte von Menschen", sagt Bauer. "Jeder von uns hat eine Familiengeschichte und hat meistens auch eine Ahnung, wie sich die Eltern oder Großeltern vor 1945 verhalten haben." Und natürlich habe auch er sich immer wieder gefragt, wie er sich selbst verhalten hätte. Sein eigener Großvater war jedenfalls ein illegaler Nazi, dessen Lebensgeschichte ebenfalls Eingang ins Buch fand.

Die bewegend geschilderten Schicksale von dutzenden Österreichern verknüpft Bauer geschickt mit den Schlüsselereignissen der Zeit zwischen 1938 und 1945: Nach der Begeisterung rund um den "Anschluss" sowie der Panik bei den aus rassistischen oder politischen Gründen Verfolgten kam es laut Bauer mit dem Beginn des Kriegs zu einer spürbaren Ernüchterung.

Österreichische Orte des Grauens

Auch die Orte des nationalsozialistischen Grauens fängt Bauer in beklemmenden Schilderungen ein: die unfassbare Brutalität im KZ Mauthausen und in den Nebenlagern, wo rund 100.000 Menschen in den Tod getrieben werden, die Morde im Schloss Hartheim, der größten Euthanasieanstalt im gesamten Deutschen Reich, wo zwischen 1940 und 1944 etwa 30.000 Personen umgebracht werden. Natürlich werden aber auch die Schrecknisse der letzten Kriegstage und die Übergriffe der Sowjets nicht ausgespart, ehe die mitreißenden Schilderungen recht abrupt enden.

Generellere Schlüsse

Die Schlussfolgerungen, die das famose Buch zieht, fallen ambivalent aus. "Geschichte ist so wie Lebensgeschichten nie nur schwarz oder weiß", resümiert Bauer. Das gelte auch für Österreich in der Zeit zwischen 1938 und 1945: "Unsere Landsleute haben sich sicher nicht besser, aber auch nicht viel schlechter verhalten als die Bewohner anderer Länder in dieser Zeit. Auch in Frankreich haben viele Menschen mit den Nationalsozialisten kollaboriert."

Der lang aufrechterhaltene Mythos vom "Opfer" sei klarerweise falsch. Umgekehrt habe er aber auch keine Belege für die von Simon Wiesenthal aufgestellte These gefunden, dass Österreicher unter den NS-Verbrechern in der SS und in den Konzentrations- und Vernichtungslagern im Vergleich zu den Deutschen überrepräsentiert gewesen wären.

Österreicher als Defätisten?

Dieser Frage möchte er aber in einem weiteren Projekt noch einmal genauer nachgehen – wie der nach der defätistischen Haltung der österreichischen Soldaten, die womöglich auch auf eine bevorzugte Behandlung in Kriegsgefangenschaft hofften. Darüber gab es sogar einen Witz im "Altreich", den Bauer auch im Buch erzählt.

Göring, Goebbels und Hitler unterhalten sich, was sie im Fall einer Kriegsniederlage tun würden. Göring will zu seinen Freunden nach Spanien fliegen. Der klein gewachsene Goebbels will sich im Konfirmationsanzug seines Neffen den Russen stellen und bei deren Ankunft sagen: "Leider, der Vati ist nicht zuhause." Hitler schweigt, und auf Nachfrage meint er verwundert: "Was kann mir passieren? Ich bin Österreicher." (Klaus Taschwer, 5.11.2017)