Frauen werden nach sexueller Gewalt in der indischen Gesellschaft noch immer stigmatisiert.

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Nichts weniger als eine Revolution sollte in Indien starten. Diese rief Innenminister Sushilkumar Shinde infolge der Massenvergewaltigung der 23-jährigen Physiotherapeutin Jyoti Singh aus. Die junge Frau starb an den Folgen des Verbrechens, und der ganze Subkontinent war entrüstet. Strengere Gesetze, höhere Strafen und mehr Straftatbestände wie etwa Voyeurismus und Stalking wurden im Parlament verabschiedet. Das war im Jahr 2013. Doch seitdem gab es keine Revolution. Die Überlebenden von sexuellen Angriffen werden noch immer stigmatisiert und vom System alleingelassen, wie eine Studie der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) zeigt, die am Mittwoch veröffentlicht wurde.

"Die vorhandenen Gesetze sind gut", sagt Jayshree Bajoria, die Autorin des Berichts, im Gespräch mit dem STANDARD. "Aber sie werden nicht umgesetzt." Zwar stieg die Anzahl der Meldungen von Sexualdelikten von 24.923 im Jahr 2012 auf 34.651 im Jahr 2015, was die höhere Bereitschaft von Überlebenden zeigt, ihr Schweigen zu brechen. Doch fand Human Rights Watch in mehreren Bereichen schwere Missstände, beginnend beim Vorgehen der Polizei.

Überlebende erzählen Human Rights Watch von ihren Erfahrungen.
HumanRightsWatch

Druck von Polizisten

Seit 2013 sind Polizeibeamte bei Vorwürfen der sexuellen Gewalt verpflichtet, eine Erstinformationsmeldung aufzunehmen. Damit wird die Untersuchung sexueller Vergehen und damit ein spezieller Prozess in Gang gesetzt. Unter anderem werden besonders ausgebildete Polizistinnen zum Opfer geschickt, um es zu vernehmen. Doch obwohl bis zu zwei Jahre Haft auf das Nichtausfüllen einer solchen Meldung stehen, geschieht es in vielen Fällen nicht.

Mehr noch: Überlebende, die aus unteren Kasten oder gesellschaftlich marginalisierten Gruppen kommen, werden von Polizisten unter Druck gesetzt, ihre Aussagen zu ändern oder zurückzuziehen. Human Rights Watch zitiert in dem Zusammenhang den Fall einer 23-Jährigen, die von Polizisten geschlagen wurde und deren Vater eingesperrt und gezwungen wurde auszusagen, dass seine Tochter falsche Angaben gemacht habe.

Zweifingertest noch vorhanden

Aber nicht nur die Exekutive, sondern auch die Mitarbeiter des Gesundheitssystems scheitern laut der Studie dabei, den Opfern eine entsprechende Versorgung zukommen zu lassen. So verwenden Ärzte noch immer den degradierenden und umstrittenen Zweifingertest, um die Jungfräulichkeit der Frauen und Mädchen festzustellen. "Außerdem dürften Ärzte in ihrer Diagnose gar nicht von 'Vergewaltigung' oder 'keiner Vergewaltigung' sprechen", sagt Bajoria. "Das ist Aufgabe der Gerichte. Und trotzdem tun sie es."

Gerichte wiederum müssten Vergewaltigungsopfern laut neuer Gesetzeslage landesweit mindestens 3.000 Rupien oder etwa 40 Euro Entschädigung zusprechen. Laut HRW-Informationen haben nur drei Opfer diese Entschädigung seit 2013 erhalten. Zudem habe jeder Bundesstaat illegal seine eigenen Mindestbeträge festgelegt, die noch unter dem bereits niedrigen bundesweiten Betrag liegen.

Wenig Kontrolle der Einrichtungen

Die über einhundert Krisenzentren, die 2013 im ganzen Land eröffnet worden waren, sind laut Bajoria "eine gute Idee". Sie würden nur "leider nicht funktionieren". Bei einem Lokalaugenschein in mehreren Einrichtungen hatten die HRW-Forscher keine Opfer angetroffen. "Es wird schlichtweg nicht überwacht oder evaluiert, was mit den Geldern für diese Zentren passiert", sagt Bajoria.

Neben all den behördlichen Missständen weißt der Bericht jedoch vor allem auf die weiterhin anhaltende Stigmatisierung von Überlebenden hin. So hätte etwa in einem Fall eine junge Frau mit ihren Eltern umziehen müssen, weil sie der Vermieter vor die Tür gesetzt hatte: Er wollte kein Opfer sexueller Gewalt unter seinem Dach haben. Einige Richter sehen laut HRW noch immer die "Heiratsfähigkeit" von Frauen beschädigt statt der Integrität des eigenen Körpers.

Wie man das Stigma beseitigen könnte? Laut Bajoria müsste der Dialog mit Frauen und Männern gleichermaßen gesucht werden. Sexualunterricht in den Schulen wäre ein Ansatz, doch es gibt kein Patentrezept, sagt die Studienautorin. Ein weiterer Schritt wäre "aber sicher einmal, dass die Gesetze eingehalten werden". (Bianca Blei, 8.11.2017)