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Die neuen Aufzeichnungstechnologien, die ab 1960 verstärkt in den Künsten eingesetzt werden, markieren einen Epochenschnitt, so der Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen.

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"Die aufgezeichnete Stimme interessiert mich am meisten: Sie hat den Körper verlassen und geht so in eine Öffentlichkeit ein", sagt der Kulturwissenschafter Diedrich Diederichsen.

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Wien – Popmusik ist das Spezialgebiet, mit dem sich der deutsche Kulturwissenschafter Diedrich Diederichsen in der akademischen Welt und darüber hinaus einen Namen gemacht hat. Zumindest annäherungsweise. Denn eigentlich hat Diederichsen weniger eine Theorie der Popmusik als eine der Pop-Musik geschaffen – der Bindestrich zwischen Pop und Musik ist wesentlich. Und damit sind wir auch schon mitten in der Diederichsen'schen Theorie – beschäftigt er sich doch nicht im engeren Sinne mit einem musikalischen Genre namens Pop, sondern mit einem kulturellen Produkt, das viel mit Musik zu tun hat, aber auch in der "unmittelbaren Nachbarschaft von Sex" angesiedelt ist.

Seinen 60. Geburtstag im August dieses Jahres nimmt die Akademie der bildenden Künste Wien, an der Diederichsen den Lehrstuhl für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst innehat, zum Anlass, ihm und seiner Arbeit diese Woche ein Symposium zu widmen.

Dem Lied "Itchycoo Park" der Small Faces aus dem Jahr 1966 hat Diederichsen eine zentrale Passage seines Buchs "Über Pop-Musik" gewidmet, stehe es doch "für ein in gewisser Weise einschneidendes Erlebnis". Dieses hat etwa mit Stimmverfremdungen im Mittelteil des Songs zu tun, die Diederichsen als "eindringliche Steigerung von Flüstern, eine Art negatives Gebrüll, Gebrüll nach innen" beschreibt.
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STANDARD: Herr Diederichsen, Anlass unseres Gesprächs ist ein Symposium, das zu Ihren Ehren diese Woche stattfindet. Es geht dabei um "Voice and Vote" - die Doppelnatur des Wortes "Stimme", die angeblich auch Ihr Werk charakterisiert – wodurch?

Diederichsen: Für mich kommen beim Begriff Stimme sogar drei Dinge zusammen: zunächst die Stimme als körperlicher, materieller, objektiver Ausdruck von menschlicher Subjektivität und Individualität. Sodann die politische Stimmabgabe, wo diese Subjektivität in die Repräsentation eingeht. Und drittens die aufgezeichnete Stimme – die interessiert mich am meisten, weil sie Elemente der beiden anderen verbindet: Die aufgezeichnete Stimme hat einerseits den Körper verlassen und geht so in eine Öffentlichkeit ein, was mit Stimmabgabe zu tun hat, andererseits wurde sie vom Körper verursacht.

STANDARD: In Ihrem aktuellen Buch "Körpertreffer" spielen die Begriffe Index und Verursachung eine zentrale Rolle - was haben sie mit der aufgezeichneten Stimme zu tun?

Diederichsen: Über den Begriff des Index kann man den Effekt der aufgezeichneten Stimme verallgemeinern. In Fotografie und Phonographie haben wir es mit Aufzeichnungen, fiktionalisierbaren Bildern und Klängen zu tun, die von realen Körpern verursacht worden sind. Der amerikanische Zeichentheoretiker Charles Sanders Peirce hat Zeichen, die auf ihre Verursachung verweisen, als Index bezeichnet: Rauch steht für Feuer. Die zentrale These meines Buches ist, dass die direkte körperliche Verursachung der technisch aufgezeichneten Künste nicht nur deren technisch-mediale Voraussetzung ist, sondern auch ein ästhetischer Inhalt sein kann – ein ganz anderer als Komposition oder Kadrage (Auswahl des Bildausschnitts, Anm.).

Nachdenkpause, Teil 1

Moment! Bevor wir uns völlig in den Gedankenarabesken von Diederichsen verlieren, wollen wir einen kurzen Moment innehalten und uns fragen: Was meint er denn nun mit Stimme, Stimmabgabe, Index und Verursachung genau? Um dem auf die Schliche zu kommen, ist ein Blick in Diederichsens "Körpertreffer" hilfreich: Gleich auf den ersten Seiten macht er darin klar, dass um 1960 neue Aufzeichnungsformen einen Epochenschnitt in den Künsten markieren. Der niederschwellige Zugang zu Multimediatechnologien ermöglicht es Künstlerinnen und Künstlern, sich selbst und ihr Werk in vielfältiger Weise aufzuzeichnen. Das hat klarerweise auch ästhetische Konsequenzen, und diese versucht Diederichsen mit Begriffen, die er sich aus der Semiotik ausleiht, zu beschreiben.

Am Schicksal des britischen Musikproduzenten Joe Meek lasse sich illustrieren, wie Autoren- und Urheberschafsbegriffe entstehen, "die unter dem Einfluss eines technologischen Wandels zustande kommen", schreibt Diederichsen in "Über Pop-Musik". Einer seiner größten Erfolge gelang Meek mit der kurzfristig zusammengestellten Band The Tornados und dem Track "Telstar" aus dem Jahr 1962: Zum ersten Mal gelang es einer Nicht-US-Band, Nummer eins der US-Charts zu werden.
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Der Index bezeichnet dabei Zeichen, die auf ihre Verursachung verweisen. Am Beispiel einer Tonbandkassette können etwa die von einem Musiker oder einer Musikerin verursachten Spuren auf einer Kassette als Index bezeichnet werden.

Was Diederichsens Faszination für die aufgezeichnete Stimme angeht, lässt sich annehmen, dass sie wohl etwas mit seinem breit rezipierten Buch "Über Pop-Musik" zu tun hat, und es stellt sich die Frage:

STANDARD: In Ihrem Pop-Musik-Buch gibt es eine Stelle, wo Sie schreiben, dass Pop-Musik mehr mit Sex als mit Kunst zu tun hat - was meinen Sie damit?

Diederichsen: Ich weiß jetzt nicht, wo das in dem Buch steht, aber es ist mir zuzutrauen, dass ich so etwas geschrieben habe. Es bezieht sich auf die Urszene von Pop-Musik: Ich befinde mich in einer privaten Situation, ich bin allein in meinem Wohn- oder meinen Schlafzimmer, ich bin vielleicht noch sehr jugendlich und beeindruckbar – und nun habe ich Kontakt mit einer fremden Stimme, die mich – auch vom Sprechakt her – anzusprechen scheint: mich als allein im Zimmer sitzenden Teenager. Das richtet sich direkt an die Beeindruckbarkeit der einsamen Person. Natürlich hat das etwas mit Sex zu tun.

STANDARD: Wie man aus Ihrem Buch erfährt, hat Pop-Musik nicht nur viel mit Sex zu tun - sondern auch mit Raumfahrt: Sie setzen den Beginn von Pop-Musik Mitte der 1950er an, damit teilt sie ihre Lebensspanne mit der bemannten Raumfahrt. Sie schreiben auch, dass Pop-Musik die Raumfahrt immer interessiert begleitet hat – woran liegt das: Eskapismus, Aufbruchsstimmung?

Diederichsen: Das hat genau mit diesen beiden Dingen zu tun. Und natürlich enthält die bemannte Raumfahrt noch mehr an philosophischen Dimensionen, die mich interessieren und die mir auch in der Pop-Musik wichtig sind.

STANDARD: Welche sind das?

Diederichsen: Zunächst ist das All klassischerweise das Vorbild für harmonische Konstellationen: die Musik der Sphären, der Planetenbahnen. Zum anderen ist der Weltraum immer schon ein Bedeutungsangebot für ungewöhnliche synthetische Klänge in der Pop-Musik gewesen. Schließlich fällt ihre Epoche zusammen mit der Sichtbarkeit des Planeten als Objekt: Die Erde ist nicht nur ein Ort, an dem wir uns befinden und von dem aus wir in das All schauen, sondern nun auch etwas, das man von woanders aus sehen kann und sich so vom Subjekt-Ort zum Objekt verschiebt. Damit im Zusammenhang stehen die vieldiskutierten Denkmöglichkeiten des Anthropozäns bis zur Gaia-Hypothese.

Nachdenkpause, Teil 2

Zeit für eine weitere Nachdenkpause: Was hat die Außenperspektive auf die Erde mit der Behauptung zu tun, dass die Erde als Lebewesen betrachtet werden kann, wie es die Gaia-Hypothese vorschlägt? Wesentlich ist dabei wohl das Anthropozän, das Diederichsen en passant fallengelassen hat. Der 2000 von Chemienobelpreisträger Paul Crutzen geprägte Begriff schlägt vor, das aktuelle Erdzeitalter nach dem Menschen zu bezeichnen, weil er bereits derart einschneidende Spuren auf dem Planeten Erde hinterlassen hat.

Während Geowissenschafter noch diskutieren, ob das auch in den jahrtausendelangen Zeitspannen, in denen sie denken, gerechtfertigt ist, hat sich das Anthropozän bereits fest in den Kulturwissenschaften etabliert. Die Raumfahrt hat damit insofern zu tun, als die ersten Bilder von der Erde, die vom All aus aufgenommen worden sind, die Verletzlichkeit unseres Planeten in einer nie dagewesenen Deutlichkeit zum Ausdruck brachten – und damit den Auftrag an die Menschheit transportieren, achtsam mit ihm umzugehen.

Was Diederichsen am Song "Rumble" von Link Wray aus dem Jahr 1958 interessiert, ist die Reduktion auf das Wesentliche. Wie er in "Über Pop-Musik" schreibt, sei das nicht allein Pop-Musik, "sondern zugleich eine Form von Minimalismus".
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Zurück zum Interview: Diederichsen hat gleich den nächsten Termin, aber eines wollten wir schon noch von ihm wissen:

STANDARD: Was hat denn nun eigentlich der Bindestrich bei Pop-Musik zu bedeuten?

Diederichsen: Es ist eine Schreibweise, um den Unterschied zu Kategorien wie "Populäre Musik" oder "Popularmusik" zu markieren. Es geht auch darum, das Zusammengesetzte offenzulegen. Denn Pop-Musik ist ein Medienverbund ohne Zentrum. Das private, einsame Hören und das öffentliche Hören derselben Klangaufzeichnung kommen dabei zusammen, und damit verbunden sind die kursierenden Bilder auf Plattencovern und im Fernsehen. Erst die User setzen das alles zusammen, aber nicht als Objekt, sondern als Lebensform.

STANDARD: Noch eine letzte Frage: Sie haben vor einigen Jahren ein Seminar über "Zeitunglesen für KünstlerInnen" gehalten - haben Sie Empfehlungen, wie dieses Interview gelesen werden könnte?

Diederichsen: Dieses Interview erscheint ja auf den Wissenschaftsseiten – die haben mich immer interessiert, und ich finde, sie haben viel zu wenig Platz. Nicht nur im Hinblick darauf, was in der Wissenschaft passiert, sondern auch, was die Problematisierung von Wissensproduktion angeht. Öffentlich kursierende Ideen stehen in einem Verhältnis zu dem, was Wissenschafter tun, und das wird viel zu wenig thematisiert. (Interview: Tanja Traxler, 17.11.2017)