Spätestens seit den durch die Affäre Waldheim ausgelösten fundamentalen Änderungen in der österreichischen Erinnerungskultur sollte man meinen, dass zumindest aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive die Debatte um den Opfer- oder Täterstatus der österreichischen Gesellschaft endgültig abgeschlossen und jedwede Form der Relativierung der österreichischen Mitverantwortung und Mittäterschaft an den Verbrechen des Nationalsozialismus obsolet geworden ist. Kurt Bauers jüngste Publikation "Die dunklen Jahre" und vor allem die im STANDARD erschienene Besprechung des Buchs durch Klaus Taschwer, lassen daran allerdings zweifeln.

Österreichische "Kollaborateure"?

Wenn Bauer in dem Artikel mit dem Satz zitiert wird: "Unsere Landsleute haben sich sicher nicht besser, aber auch nicht viel schlechter verhalten als die Bewohner anderer Länder in dieser Zeit. Auch in Frankreich haben viele Menschen mit den Nationalsozialisten kollaboriert", verwundert dies doch ein wenig, wirkt es doch so, als wolle Bauer implizieren, Österreicher und Franzosen hätten innerhalb des NS-Staats und des NS-System eine ähnliche Rolle gespielt. Diese Implikation ist ausgesprochen fragwürdig. Denn während es in Frankreich ohne Zweifel eine beträchtliche Zahl an Kollaborateuren gegeben hat, können deren Funktionen nicht mit jenen Rollen gleichgesetzt werden, die Österreicher im NS-System gespielt haben.

Methodische Fragen

Das positive Medienecho, das Bauers Buch auslöste, ist insofern verwunderlich, als die Publikation einige methodische Fragen aufwirft. So produktiv Bauers Versuch, sich dem alltäglichen Grauen der nationalsozialistischen Herrschaft in individuellen Schlaglichtern anzunähern an sich sein mag, lässt sich daraus kein Schluss über die Grundgesamtheit der Österreicherinnen und Österreicher im NS-Staat ziehen. Genau das tut Bauer jedoch explizit. Selbst wenn Bauer Kriterien für die Repräsentativität seiner Fälle definiert und die Quellen danach ausgewählt hätte, bliebe das ein gewagtes Unterfangen – doch eine befriedigende Antwort auf die Frage, warum gerade die untersuchten Fälle für Millionen von Menschen stehen können sollen, gibt das Buch nicht. 

Dazu kommt Bauers leichtfertiger Umgang mit wissenschaftlichen Begrifflichkeiten: So läge der Anteil an Täterinnen und Tätern unter Österreichern "eher" unter dem der Deutschen. Da muss die Frage erlaubt sein: Liegt er nun darunter oder nicht? Entweder Bauer kennt, wie er insinuiert, die Zahlen – dann müsste er das Verhältnis angeben können – oder er hat bloß eine Vermutung – dann müsste er sie als solche bezeichnen und erklären, worauf sie beruht. Die Untersuchung einer handvoll Fälle, die also solche durchaus interessant, lesenswert und aufschlussreich ist, lässt darüber jedenfalls keinen Rückschluss zu. 

Keine Zahlen zur Partizipation

Auch wenn Bauer mit der Feststellung Recht hat, dass es keine kompletten Zahlen zur Partizipation vormals österreichischer Bürger am gesamten NS-System gibt, liegen jedoch einzelne Zahlen zu bestimmten Teilbereichen vor. Diese machen deutlich – wie auch Bauer in seiner Publikation einräumt –, dass Österreicher in manchen Bereichen über- und in anderen unterrepräsentiert waren. Alleine aus der Unterrepräsentation in manchen Bereichen aber ableiten zu wollen, dass Österreicher die weniger überzeugten Nazis waren, ist genauso falsch, wie der umgekehrte Schluss aus der Überrepräsentation in anderen.

Allerdings kann angemerkt werden, dass ein genauerer Blick auf jene Bereiche, in denen eine Überrepräsentation gut erforscht ist – beispielsweise die "Aktion Reinhard", bei der die Zahlen je nach Historiker zwischen 13 und 20 Prozent (Bertrand Perz) und 40 Prozent (John Weiss) österreichischer Beteiligung bei einer Gesamtbevölkerung von 8,8 Prozent liegen – kein besonders gutes Licht auf Österreicher werfen. Alleine die niedrigere Zahl der gefallenen Wehrmachtsangehörigen aus der Ostmark ist in unserem Verständnis nicht zulässig, um eine Täterthese zu entkräften, spielen hier doch eine ganze Reihe an Faktoren mit, die sich nicht alleine mit der Motivation der Soldaten erklären lassen müssen – etwa die Organisation der Wehrkreise, der Einsatz in unterschiedlichen Schlachten et cetera. Dem gegenüber steht beispielsweise die leichte Überrepräsentation von Österreichern in der NSDAP.

Im Schlussteil seines Buches zieht Kurt Bauer folgende Conclusio: "Österreicher waren an nationalsozialistischen Untaten beteiligt […] aber ihr Anteil an den Mördern ging nicht über den ostmärkischen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Großdeutschen Reiches hinaus, sondern blieb eher darunter. Wie die Opferthese ist auch die Täterthese nichts anderes als ein Mythos". Aus einer rein punktuell erforschten Über- und Unterrepräsentation lässt sich aber nicht ableiten, ob die Österreicher insgesamt weniger überzeugte Nazis waren.

Hitler in Wien im März 1938 – wie viele Österreicher am NS-System beteiligt waren, ist unbekannt.
Foto: AP

Mord ohne Täter?

Auch Bauers vage Formulierung legt nahe, dass sich Österreicher und Deutsche nach derzeitigem Stand der Forschung in vergleichbarer Art und Weise an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligten. Das wirft eine wesentliche Frage auf: Wenn sich Österreicher ähnlich wie Deutsche verhalten haben, es sich bei Österreich für Bauer aber um keine Tätergesellschaft handelt, wie sieht es dann mit Deutschland aus? Gibt es dann überhaupt noch eine Tätergesellschaft oder fallen wir damit in eine Interpretation des Nationalsozialismus zurück, die die Schuld an den Verbrechen bei einer kleinen Gruppe an extremen Tätern sucht und die Verantwortung der Gesamtgesellschaft leugnet?

Dies würde einen Rückschritt in jene Zeit bedeuten, die Ralph Giordano als die "zweite Schuld" bezeichnet hat: "Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945." Wie Christopher Browning, Hannah Arendt und viele andere exemplarisch aufgezeigt haben, waren es aber gerade Menschen aus der Mitte der Gesellschaft – egal ob aus dem "Altreich" oder der Ostmark – welche die brutalen Verbrechen des NS-Systems zu verantworten hatten, sei es als Angehörige der verschiedenen Truppenteile, als kleines Rädchen in der NS-Tötungsmaschine, als Mittäter bei Pogromen oder als Profiteure von Arisierungen.  

Das "erste Opfer" lebt länger

Die Externalisierung des Nationalsozialismus in Österreich nach 1945 in Form der meta-narrativen Opferthese, die zu einem der Gründungsmythen der Zweiten Republik geworden ist, negiert eben diese Mitverantwortung. Im historischen Konsens gibt es zwar keine kollektive Schuld aller damaligen Österreicher, aber eine kollektive Mitverantwortung losgelöst von der individuellen Schuld. Österreichs Gesellschaft muss daher gemeinsam mit Deutschland – sowohl der BRD als auch der DDR – als eine der drei großen Nachfolgegesellschaften des NS-Staats gesehen werden und eben nicht in einer Linie mit den unzweifelhaften Opfern der nationalsozialistischen Aggressionspolitik wie Frankreich oder Polen. Zu stark waren gebürtige Österreicher in allen Bereichen des NS-Systems involviert – in manchen eben mehr, in anderen weniger.

Zwar kehrt Bauer nicht zur Opferthese zurück, setzt sie aber mit der "Täterthese" gleich, was sie eben nicht ist. Die Idee, eine Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus in Österreich "von unten" durch die geschichtswissenschaftliche Bearbeitung unterschiedlicher lebensgeschichtlicher Quellen zu schreiben, ist zwar ein ausgesprochen begrüßenswertes Unterfangen und zielt auch klar auf die Schließung einer schmerzhaften Lücke in der österreichischen Zeitgeschichte, erlaubt in unserem Verständnis jedoch keine derartigen Großthesen. Schließlich könnten 20 andere Lebensgeschichten eine gänzlich divergente Geschichte erzählen.

Einen vermeintlichen Mythos zu entzaubern ist ein grundsätzlich unterstützenswertes Anliegen, denn Wissenschaft kann kein dogmatisches Unterfangen sein. Um den wissenschaftlichen Konsens – um das historistische Konzept geschichtlicher "Wahrheit" geht es ohnehin nicht – in Frage stellen zu können, braucht es aber belastbare Fakten. (Martin Tschiggerl, Thomas Walach, 16.11.2017)

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