Philipp Katsinas (Hg.), "Dialektik der Befreiung". € 10,00 / 116 Seiten. bahoe books, Wien 2017

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Der Kongress "Dialektik der Befreiung" fand vom 15. bis 30. Juli 1967 im Londoner Stadtteil Chalk Farm in einem Rundhaus – einer Remise für Lokomotiven, welche zu einem Veranstaltungsort umgestaltet worden war und den Namen Roundhouse behielt – statt. (...) Der Kongress wurde angekündigt als "eine einzigartige Versammlung, um die menschliche Gewalt in all ihren Formen und die sozialen Systeme, von denen sie ausgeht, zu entmystifizieren und neue Handlungsformen zu erforschen".

Die Haupteinflüsse auf den Kongress waren zwei in den 1960ern äußerst zentrale Anliegen radikaler Bewegungen: die freie- oder Anti-Universitäts-Bewegung und die Antipsychiatrie mit den Zielen der Emanzipation von Menschen mit psychischen Erkrankungen und ihren PflegerInnen und der Befreiung von StudentInnen und Lehrenden. Die vier aus diesen Bewegungen kommenden Organisatoren waren die US-Amerikaner Joseph Berke und Leon Redler, und die weitaus bekannteren R. D. Laing und David Cooper, allesamt existenzielle Psychiater. (...)

Verschleierte Wirklichkeit

Der Kongress widmete sich zahlreichen Themen, darunter Debatten über die Zukunft des Kapitalismus, über die Rolle von Gewalt, die Möglichkeit einer Revolution und die entstehenden Formen einer radikalen Ökologie und des Umweltschutzes. (...) An den Vormittagen fanden öffentliche Vorlesungen statt, gefolgt von Diskussionsgruppen am Nachmittag und Poesie, Lesungen, Musik, Theaterstücken und Filmen an den Abenden. (...)

Eröffnet wurde der Kongress mit einem Vortrag von Laing. Seine These war, dass die Realität für viele Menschen mehr Erscheinung als Wirklichkeit sei – eine Perspektive, welche Bezeichnungen benutzt, um andere zu maskieren oder zu kontrollieren. Solche Bezeichnungen seien ein Werkzeug des Wissens und würden auch von den Autoritäten zur Kontrolle eingesetzt, desgleichen in der Psychiatrie. Laing beschrieb den blinden Gehorsam gegenüber der Autorität als Ursprung von Ignoranz, welche die Individuen unterdrücke.

Der amerikanische Bürgerrechtler Stokely Carmichael hielt eine programmatische Rede, in welcher er sich mit Black Power und der Unterscheidung zwischen individuellem und institutionalisiertem Rassismus auseinandersetzte. Carmichael referierte diese Unterscheidung, indem er den Bombenanschlag auf eine baptistische Kirche in Birmingham, Alabama, im Jahr 1963, der von weißen Suprematisten durchgeführt wurde und dem vier Mädchen zum Opfer fielen, der Beobachtung gegenüberstellte, dass 500 schwarze Babys in der gleichen Stadt jedes Jahr als direkte Folge von Armut und Diskriminierung starben. (...)

Der Anthropologe Jules Henry argumentierte, dass es dem modernen Kapitalismus gelungen sei, die Optionen und Horizonte der Menschen in einem erschreckenden Grad zu begrenzen. Er wies auf die sozialen Aspekte des Krieges und des Konflikts hin und stellte dar, wie die Bestimmung eines Feindes Teil des Weges ist, Menschen auf den Krieg vorzubereiten. Dabei fokussierte er auf die Beziehungen der US-Regierung mit dem militärisch-industriellen Komplex und argumentierte, dass die amerikanische Wirtschaft eine Kriegswirtschaft sei, die die Industrie für Kriegsproduktion mobilisiert.

Der Politologe John Gerassi befasste sich mit ähnlichen Themen und richtete seine Aufmerksamkeit auf die (...) US-amerikanischen Interventionen in Zentral- und Südamerika. In "Die Zukunft des Kapitalismus" beschrieb der Ökonom Paul Sweezy die Entwicklung eines kapitalistischen Weltsystems. Er skizzierte eine Theorie der ungleichmäßigen Entwicklung durch die Ausplünderung der Peripherie durch die "entwickelten kapitalistischen Länder". (...)

Marcuses Gesellschaft

Der Philosoph Herbert Marcuse argumentierte in seinem Vortrag für die Befreiung von der Überflussgesellschaft und beschrieb die Schwierigkeit radikalen Wandels innerhalb einer Gesellschaft, die Komfort bietet. (...) Er sah die Möglichkeit der Technologie, das ökonomische Problem der Knappheit zu lösen, und befürworte einen radikalen qualitativen sozialen Wandel durch den Einsatz der technologischen Kapazitäten der Überflussgesellschaft, um die Individuen von sozial unnötiger Arbeit, Repression und Herrschaft zu befreien. Die Libidinisierung der Arbeit würde dann zu einem neuen Bewusstsein führen, zur Gesellschaft als Kunstwerk.

Zudem bekräftigte er sein Engagement für die Neue Linke und die Gegenkultur mit der Argumentation, dass eine "neue Sensibilität" und alternative Lebensformen notwendig sind, um die dominierenden Formen der Unterdrückung und Konformität in der etablierten Gesellschaft zu überschreiten. Marcuse verstand Sozialismus dabei als die komplette Negation der bestehenden Gesellschaft, die zu einer freien und glücklichen Existenz mit weniger Arbeit, mehr Spiel und der Verringerung sozialer Repression führen würde. Somit gliederte sich sein Denken dem gegenkulturellen Wunsch einer neuen Gesellschaft und Lebensweise mit alternativen Werten, Beziehungen und Kultur an.

Der Gestalttherapeut Paul Goodman deutete auf die Gefahren eines Atomkrieges und die Vernichtung der Menschheit, auf die drohende Umweltkatastrophe und auf Gefahren durch die Zentralisierung von Macht hin. (...) Und der Literaturtheoretiker Lucien Goldmann untersuchte die Konzepte von Verdinglichung und Verelendung mittels Anwendung textueller Auslegung und Interpretation für emanzipatorische Zwecke. (...) Der Literaturtheoretiker Lucien Goldmann wiederum untersuchte die Konzepte von Verdinglichung und Verelendung mittels Anwendung textueller Auslegung und Interpretation für emanzipatorische Zwecke. (...)

Carolee Schneemanns Kritik

Einen bleibenden Eindruck hinterließ auch Alain Ginsberg. Er las einige Gedichte, skandierte Mantras (...) und gab einen Vortrag über "Bewusstsein und praktisches Handeln". Ginsberg war auch an der wohl legendärsten Diskussionsveranstaltung des Kongresses beteiligt. Er sprach in einem Panel mit R. D. Laing, Stokely Carmichael und Emmett Grogan. Dabei entwickelte sich eine Abfolge persönlicher Angriffe zwischen Panel-Mitgliedern und dem Publikum. Ausschnitte davon sind in den Dokumentarfilmen Anatomy of Violence von Peter Davis und Ah! Sunflower von Iain Sinclair und Robert Klinkert zu sehen.

Carolee Schneemann, die einzige Frau unter den Kern-Teilnehmern des Kongresses, führte am letzten Abend des Kongresses eine Performance namens Round House auf, als ein Beispiel dessen, was sie "kinetisches Theater" nannte. Schneemanns Performance war als eine Kritik an der patriarchalen Hierarchie des Kongresses vorgesehen, der seine befreienden und anti-hierarchischen Ansprüche und Ziele verfehlte.

Kritische Ansichten wurden auch während des Kongresses manifestiert. Als Beispiel sei die verärgerte Reaktion eines jungen Arbeiters aus dem Publikum auf die Abwesenheit konkreten politischen Handelns auf dem Kongress genannt. Roger Barnard von der Zeitschrift Peace News kritisierte die Art und Weise, in der die Organisatoren "anscheinend versuchten, alles im Voraus zu strukturieren" und "den echten Dialog durch eine sehr effektive Tyrannei des Mikrofons zu blockieren".

In einem Zeitalter von zunehmenden sozialen Ungleichheiten, Rassismus, Umweltverschmutzung und -zerstörung, aber auch der wachsenden studentischen und gegenkulturellen Frustration (...) versuchte Dialektik der Befreiung eine revolutionäre Dynamik zu schaffen, durch die Fusion von Ideologie und Praxis auf den Ebenen des Individuums und der Massengesellschaft.

Triumphale Bilanz

Obwohl das Ziel, welches David Cooper während seiner Schlussrede, einer triumphalen Bilanz des Kongresses, propagierte – Cooper argumentierte: "Blicke ich jetzt in die Runde, dann sehe ich über Ihren Gesichtern eine Perspektive ausgehen, eine Perspektive zerbrochener Uhren. Und jetzt denke ich, ist unsere Zeit gekommen!" -, nicht erreicht wurde, hat der Kongress den Anstieg einer Welle von politischer Tätigkeit und Aktivismus, welche die folgenden Jahre charakterisierte, beschleunigt. Er bietet deshalb ein wichtiges Vermächtnis für die Kämpfe (...), die weiterhin andauern. Man denke dabei an den fortlaufenden Kampf gegen den Aufstieg nationalistischer und fremdenfeindlicher Parteien, an Bewegungen wie Occupy, Nuit Debout, Black Lives Matter oder der Flüchtlingssolidarität. (Philipp Katsinas, Album, 20.11.2017)