Wer geeignet ist, die Obsorge für ein Kind zu übernehmen, wird individuell geprüft. Bei Kindern, die nach Österreich geflüchtet sind, fallen Entscheidungen jedoch "vorschnell", wird kritisiert.

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Wien – Ein elfjähriger Bub aus Afghanistan lebte mit insgesamt sechs seiner Geschwister seit 2016 in einer Flüchtlingsunterkunft in Baden in Niederösterreich. Vergangene Woche starb er nach einem Suizidversuch im Spital.

Ein tragisches Schicksal – oder Behördenversagen? Am Sonntag vergangene Woche nahm sich ein 11-jähriger Bub das Leben. Er kam aus Afghanistan und lebte in einem Flüchtingsquartier in Baden – gemeinsam mit seinen sechs Geschwistern.
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Personen, die anonym bleiben wollen, berichten davon, dass er sich um den jüngeren Bruder mit Downsyndrom gekümmert habe oder etwa darum, dass seine Geschwister in die Schule gehen, und dass er beim Übersetzen geholfen habe. Dass er also Aufgaben übernommen habe, die normalerweise Eltern zukommen. Die Obsorge für den Elfjährigen und seine fünf minderjährigen Geschwister liegt beim ältesten Bruder. Er ist 23.

Entschieden wird über die Obsorge von den Bezirksgerichten. Bevor der Beschluss fällt, wird die jeweilige Kinder- und Jugendhilfe befragt, erklärt Katharina Glawischnig von der Asylkoordination Österreich, bei der sie für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zuständig ist. Eigentlich hätten in diesem Fall bei den Behörden sofort "die Alarmglocken klingeln" müssen, sagt sie im Gespräch mit dem STANDARD.

Denn es wäre für jeden Menschen eine Herausforderung, plötzlich mit sechs Kindern, davon eines mit Behinderung, "dazustehen". Für einen 23-Jährigen, der sich vielleicht selbst noch nicht in dem neuen Land zurechtgefunden hat, sei das eine zusätzliche Belastung.

Genauer prüfen

Sie kritisiert, dass bei Asylwerbern oft "vorschnell" über die Obsorge entschieden werde. Kommen Kinder ohne Eltern nach Österreich, wird geprüft, ob sie volljährige Verwandte haben. Oft sind das ältere Geschwister. Und diese würden meist zustimmen, die Obsorge zu übernehmen: weil sie fürchten, andernfalls von den Geschwistern getrennt zu werden, aber auch, weil sie sich der Verantwortung nicht bewusst seien.

Für österreichische Kinder ist die Situation anders, weil sie meist eine "etablierte Familie" haben, sagt Glawischnig. Wenn also etwa die Eltern sterben, gibt es zumeist Großeltern, Tanten oder Onkel, die als Erziehungsberechtigte infrage kommen. Glawischnig plädiert dafür, dass künftig schon vor dem Obsorgebeschluss jeder Einzelfall noch genauer geprüft wird – im Fall des 23-Jährigen sei die Obsorgeentscheidung jedenfalls "nicht sinnvoll". Zusätzlich solle nach sechs sowie zwölf Monaten erneut überprüft werden.

Hintergründe unklar

Der Fall des 23-Jährigen gelangte zuletzt wegen des Suizids seines elfjährigen Bruders an die Öffentlichkeit. Der Bub starb vergangene Woche im Krankenhaus. Die Kritik an der Obsorgeregelung vermischt sich nun in der öffentlichen Debatte mit dem Suizid.

Doch selbst wenn sich herausstellt, dass ein Missstand in der Verwaltung vorliegt, bedeutet das nicht, dass der Suizid in irgendeinem Zusammenhang damit steht. Volksanwalt Günther Kräuter will keine "vorschnelle Einschätzung in dem Fall abgeben" und sich nicht an Spekulationen über ein mögliches Verschulden der Behörden an dem Tod des Kindes beteiligen. Auch bei der Polizei heißt es, dass über die Hintergründe nur spekuliert werden könne, sagt ein Sprecher der Landespolizeidirektion Niederösterreich auf Anfrage.

Prüfverfahren eingeleitet

Die Volksanwaltschaft hat ein Prüfverfahren eingeleitet, um zu klären, ob im Sinne des Kindeswohls gehandelt wurde, oder ob es etwa Hinweise gab, die ein Einschreiten der Behörden wegen Überforderung des obsorgeberechtigten Bruders notwendig gemacht hätten. Personen, die anonym bleiben wollen, sagen, dass aus dem Umfeld der Geschwister immer wieder Gefährdungsmeldungen an die Behörden gegangen seien, darauf aber nicht reagiert worden sei. Bei den Meldungen ging es offenbar um die Frage, ob die Kinder adäquat beaufsichtigt werden.

Montagabend meldete sich der stellvertretende Badener Bezirkshauptmann zu Wort. Seine Behörde habe keinen Fehler gemacht, sagte er. Der 23-Jährige habe die Obsorge beantragt, dies sei gerichtlich geprüft und positiv beschieden worden. Auch den Gefährdungsmeldungen sei man nachgegangen. Die Familie habe daraufhin Hilfe bekommen. (Oona Kroisleitner, Christa Minkin, 20.11.2017)