Peter von Matt, "Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur". € 22,70 / 288 Seiten. Hanser, 2017

cover: Carl Hanser Verlag

Die Klage ist immergrün und wird aktuell wieder in Zeitungsfeuilletons disputiert: Die Hochschulgermanistik, die Lehre von Deutung und Ausdeutung der Literatur, sei taub und stumm. Taub, weil sie Philologen hervorbringe, die für Klang und Schönheit der Poesie unerreichbar seien, und stumm, weil sie in einem unverständlichen Jargon eifrig winzigste künstliche Problemfelder beackere. Alles richtig! Schließlich gibt es tatsächlich eine Dissertation über die Rolle des Strichpunkts im Spätwerk Heinrich Heines. Allzu oft auch kreuzt man den Weg von sich akademisch wohlbestallt mit Literatur Beschäftigenden und muss konsterniert konstatieren, dass es für sie keinerlei Unterschied auszumachen scheint, einen Beipackzettel auszudeuten oder sich über einen Satz von Kafka, Keller und Musil oder ein Gedicht Christine Lavants zu beugen.

Der Schweizer Peter von Matt, im Mai dieses Jahres 80 Jahre alt geworden und mehr als ein Vierteljahrhundert lang Ordinarius an der Universität Zürich, ist eine der wenigen, sich davon glanzvoll hebenden Ausnahmen. Aus dem fachgermanistischen Beschreiten abgefahrener Diskursholzwege hat er für sich das Gegenteil abgeleitet und ein konträres Geschäftsmodell literarischer Umkreisung entwickelt – das Ausleuchten von Gefühlszuständen. So bündelte er in der Vergangenheit Essays über Liebesverrat, Familiendesaster sowie Hinterlist und Intrige zu Büchern.

Nun schreibt er über die Anthropologie und die Wissenskunde der Dichterinnen und Dichter über das Küssen und Küsse. Und zwar bei Virginia Woolf, Scott Fitzgerald, Gottfried Keller – ihm sichtlich am nächsten stehend, er präsentiert sich unverhohlen als entflammter Keller-Verehrer -, bei Grillparzer, Kleist, Marguerite Duras und Anton Tschechow. Über die Abfolge mag man füglich streiten, wieso Duras vor Tschechow und vor Duras der Essay über Kleists so grotesk daherkommende und in seinen Einzelszenen noch groteskere Erzählung Marquise von O...., nicht jedoch über die Vorgehensweise.

Denn der Titel der kleinen Studie über Tschechows Der Kuss, "Glück als Infektion", gilt im Großen für dieses Buch im Ganzen. Literatur als Infektion. Lektüre als ansteckende Glücksverführung. Literatur als Passion. Von Matt zeigt sich als durch und durch passionierter, also leidenschaftlicher Leser, auch wenn man sich hie und da, etwa bei Fitzgerald, wünschte, er hätte noch etwas mehr rings um dessen Roman Der große Gatsby zur Kenntnis genommen.

Philematologie, abgeleitet von griechisch "philema" für Kuss, wird beim aus Luzern gebürtigen Philologen zum klugen Streifzug, das Aufdrücken der gespitzten Lippen auf den Körper eines anderen Menschen, wie es nüchtern-physiologisch heißt, zum heiß-kalten Ereignis. Seinen Sätzen vermag er Rhythmus zu geben, Melodie und Wohlklang. Die Sprache liebt ihn und küsst zurück, heftig und mit Verve. Wie heißt es beim deutschen Romantiker Adelbert von Chamisso: "Küssen will ich, ich will küssen"! Davor jedoch steht das Lesen dieses Prosabandes über das Küssen. (Alexander Kluy, Album, 30.11.2017)