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Schengen im deutsch-französisch-luxemburgischen Dreiländereck.

Foto: Reuters/Wolfgang Rattay

Irgendein Land blockiert praktisch immer. Das ist in der Europäischen Union eine alte Regel, wenn die Innen- oder Justizminister der Mitgliedstaaten zusammenkommen, um über gemeinschaftliche Politik zu verhandeln, die die innere Sicherheit ihrer Länder betrifft. Genauer gesagt: wenn sie über mögliche "Bedrohungen von außen", von außerhalb ihrer jeweiligen nationalen Staatsgrenzen, reden. Solche können aus Drittländern auf dem Balkan, aus Osteuropa und Nordafrika kommen – Stichwort illegale Migration; aber auch aus EU-Staaten, zu denen es Grenzkontrollen gibt; oder von engsten EU-Partnern, die an ihren Staatsgrenzen keine Personen- und Fahrzeugkontrollen mehr durchführen.

Sosehr sich die meisten Regierungen in feierlichen Anlässen zum gemeinsamen Europa bekennen, zum Binnenmarkt mit den vier "Freizügigkeiten" für Waren, Kapital, Personen und Dienstleistungen und zur Gemeinschaftswährung Euro, so sehr "ticken" sie in Fragen der Sicherheit auch 25 Jahre nach dem Abschluss des EU-Vertrages von Maastricht nach wie vor national, wenn es um die innere Sicherheit geht.

"Schönwetterkonzept"

Die damals geschaffene Union der Staaten erwies sich als ein "Schönwetterkonzept", wie eine Expertin der EU-Kommission heute nüchtern konstatiert. Der starke Druck der Migranten im Jahr 2015, als hunderttausende Flüchtlinge auf der Balkanroute nach Norden strebten, habe gezeigt, dass die bestehenden Regeln nicht ausreichen, beim Grenzregime ebenso wie bei Asyl und Migration. Es müsste längst nicht nur bei der Grenzsicherung, sondern auch bei der gemeinsamen Abwicklung von Asylanträgen, bei der künftigen Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten nachgebessert werden. Umfangreiche Vorschläge der Kommission liegen längst auf dem Tisch. Aber die Umsetzung ist dürftig. Es geht nur klein-klein voran.

Das erinnert entfernt auch an eine andere große Krise bei einem politischen EU-Großprojekt: dem Euro. Als die Banken- und Finanzkrise ab 2008 von den USA voll über Europa hereinbrach, zeigte sich, dass die Euro-Stabilitätsregeln bei weitem nicht ausreichten. In mühsamer Kleinarbeit wurde seither nicht nur eine Bankenunion geschaffen, sondern auch die Koordination in der Eurozone deutlich verbessert. Auch da gab es viele Vetos und Widerstände.

Das mag auch der Hauptgrund sein, warum Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Mitte September im EU-Parlament bei seiner jährlichen Rede zur Lage der Union sich fast flehentlich an die Mitgliedstaaten wandte. Er wünsche sich, dass der Ministerrat "so rasch als möglich" Bulgarien und Rumänien als vollberechtigte Mitglieder des Schengen-Raumes anerkennen würde; dass die EU-Partner die Grenzkontrollen zu den beiden aufheben.

Offene Grenzen im Inneren, umso stärkere und effizientere Kontrolle dort, wo die EU an Drittländer grenzt – dieses Mantra betet die Kommission seit Jahren. 1500 EU-Grenzbeamte wurden den Staaten zur Verfügung gestellt, hunderte Millionen Euro in Material und Grenzanlagen investiert.

"Sicherheitsprobleme"

Junckers Argument: Bulgarien und Rumänien erfüllten seit Jahren die ihnen zur Grenzöffnung gestellten Auflagen. Aber die Mitgliedstaaten haben dieses Ansinnen bisher nicht einmal ernsthaft in Erwägung gezogen. Ganz vorn dabei bei den Verhinderern: Deutschland und Österreich. Ihr Argument: "Sicherheitsprobleme".

Bulgarien und Rumänien könnten nicht ausreichend garantieren, dass illegale Migration nicht erneut zunehme. Es sieht nicht danach aus, aus würden die Grenzbalken in Südosteuropa so bald fallen. "Eine Entscheidung ist nicht in Sicht", heißt es in Brüssel. Das könne und werde vermutlich noch Jahre dauern.

Seit eine kleine Gruppe von EU-Staaten unter der Führung von Deutschland und Frankreich mit drei Beneluxstaaten im Frühjahr 1995 begonnen hat, den sogenannten Schengen-Vertrag in die Tat umzusetzen, geht das so dahin. Die Schengen-Gemeinschaft ist inzwischen auf 26 Länder angewachsen, 22 davon sind EU-Mitglieder, auch die Schweiz und Liechtenstein sind dabei. Deshalb unter anderem sind Problemlagen in diesem Zusammenhang so schwierig, dauern Entscheidungen so lang. Im Zweifel wird verzögert.

Deutsche Blockade

Auch Österreich, das am 1. Dezember den 20. Jahrestag des Wegfalls der Grenzkontrollen auf Flughäfen und kleinen Grenzübergängen feiert (der Brenner oder Salzburg-Walserberg folgten erst am 1. April 1998), sollte sich daran erinnern. Als die Bundesregierung im Frühjahr 1997 die volle Schengen-Aufnahme beantragte, wurde es blockiert. Von Deutschland.

Die Begründung des damaligen bayrischen Innenministers Günther Beckstein erinnert frappant an das Argument, mit dem Österreich heute Bulgarien und Rumänien blockiert: Es gebe "eine verschärfte Sicherheitslage". Österreich wäre nicht imstande, die fast 1500 Kilometer Grenzen Richtung osteuropäischer Nachbarn (die damals nicht EU-Mitglied waren) zu sichern.

Erst heftige Proteste der Wiener Regierung und die Drohung, einen EU-Vertrag zu blockieren, ließen die deutsche Seite einlenken. Beckstein zog seinen Vorschlag eines "Stufenplans" zurück, der Österreich um Jahre zurückgeworfen und Investitionen in den Grenzschutz für fast 150 Millionen Euro sinnlos gemacht hätte.

Historische Errungenschaft

Benannt nach dem Dorf Schengen im deutsch-französisch-luxemburgischen Dreiländereck, sollte dieses Regelwerk, der "Schengen-Kodex", dazu dienen, im gemeinsamen Europa die ganz große Freiheit ausbrechen zu lassen. Schengen galt neben Euro und Binnenmarkt als unbestrittene Errungenschaft von wahrlich historischen Dimensionen in einer Zeit, als viele Staaten in Osteuropa gerade erst ihre kommunistischen Diktaturen überwunden hatten.

Aber man hatte unterschätzt, wie man die mit der Grenzöffnung verbundenen politischen Fragen, etwa wie man Asyl und Migration gemeinsam löst, wie man Terroristen bekämpft, gemeinsam beantwortet. Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen unter anderem durch Deutschland und Österreich ab 2015 war eine Folge davon. Aber: Das Ende von "Schengen" bedeutet das noch lange nicht, eher im Gegenteil. Solche zeitweiligen nationalen Kontrollen waren von Anfang an vorgesehen, es gab seit 2015 durch Grenzkontrollen keine Verletzung von EU-Recht, betont man in der Kommission. Aber: Der Rechtsrahmen muss nachgebessert werden. Den "großen Wurf" wird es 2018 nicht geben, heißt es im Rat in Brüssel. Man wird weitermachen wie bisher: zäh Schritt für Schritt reformieren. (Thomas Mayer aus Brüssel, 1.12.2017)