Das Schigymnasium Stams wurde heuer 50 Jahre alt. Stams-Schülerinnen und -Schüler gewannen mehr als 300 WM- und Olympia-Medaillen.

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Wien/Innsbruck – Nicola Werdeniggs Enthüllungen im STANDARD über Missbrauch im Skirennsport ermutigen weitere Opfer, aber auch Zeugen von Übergriffen, ihre Geschichte zu erzählen. In die zweite Gruppe fällt ein ehemaliger Aktiver des Österreichischen Skiverbandes (ÖSV), der als Schüler des Skigymnasiums Stams den allgemein "Pastern" genannten und gerne verharmlosten Missbrauch beschreibt. Dort sei das "Pastern" ein "zutiefst sexuelles Machtspiel" gewesen, das "weit über Initiationsriten hinaus" gegangen sei. Stams ist die Eliteschule des österreichischen Skisports: Absolventinnen und Absolventen der Institution, die heuer ihr 50-jähriges Bestehen feierte, gewannen mehr als 300 WM- und Olympiamedaillen.

Der Ex-Stamser widerspricht dem aktuellen Direktor Arno Staudacher, der den Übergriff als Einschmieren der Hinterbacken mit ein bisschen Schuhpasta beschrieb. Vielmehr bekamen Opfer "Zahnpasta oder einen mehr oder weniger klebrigen Klister verabreicht. Das heißt, da wurde eine Tube eingeführt." Die Übergriffe seien selten im Geheimen passiert, sagt der Zeuge im Interview mit dem STANDARD. "Damit wurde meistens auch ein Exempel statuiert. Das sollten möglichst viele andere mitkriegen." Bei der Tiroler Opferschutzstelle wurden zuletzt mehrere Missbrauchsfälle aus Stams, aber auch aus der Ski-Mittelschule Neustift gemeldet. Der jüngste Fall ist drei Jahre alt.

STANDARD: In Stams und anderen Ski-Internaten war, wenn nicht ist, "Pastern" gang und gäbe. Was verbinden Sie mit dem Begriff?

Das Pastern war und ist ein zutiefst sexuelles Machtspiel, das weit über Initiationsriten hinausgeht. Für mich ist es eine Frechheit, wenn der jetzige Stamser Direktor Arno Staudacher das herunterspielt und davon spricht, dass da ein bissl Schuhpasta auf die Hinterbacken geschmiert wird. Das ist kein netter Initiationsritus, sondern da wurde ganzen Generationen mit Gewalt von mehreren meist älteren und stärkeren Sportlern die Hose heruntergerissen. Und je nachdem, wie aufmüpfig einer vorher war, bekam er Zahnpasta oder einen mehr oder weniger klebrigen Klister anal verabreicht. Das heißt, da wurde eine Tube eingeführt. Das Ärgste, was man erwischen konnte, war ein Nassschnee-Klister, ein Steigwachs für Langlaufski.

STANDARD: In welchem Rahmen wurde gepastert?

Das ist selten im Geheimen passiert. Damit wurde meistens auch ein Exempel statuiert. Das sollten möglichst viele andere mitkriegen. Das ist keine halbromantische Geschichte, das ist harte Gewalt. Die Gepasterten sind manchmal drei Stunden in der Dusche gestanden, nicht nur um sich zu säubern. Die haben vor Scham, Verzweiflung und Wut geheult.

STANDARD: Was ist Ihnen persönlich passiert?

Ich habe weder gepastert, noch wurde ich gepastert. Das Pastern haben nicht alle erlitten, aber sehr viele. Als junger Schüler habe ich mich einmal im Speisesaal, wo eine extreme Hierarchie herrschte, mit einem Älteren angelegt. Aber als dann ein Erzieher dazugekommen ist, hab ich die Schuld auf mich genommen. Das hat den Älteren imponiert. Dennoch bin ich bei den Machtspielen in Stams fast unter die Räder gekommen. Mein Ausweg war, im Sport und Training voll zu riskieren, fast jedes Wochenende über die Stränge zu schlagen – mich zu besaufen und gegen Regeln zu verstoßen. Deshalb wurde ich von den Platzhirschen respektiert.

STANDARD: Wieso hat sich diese unselige Tradition so lange halten können?

Es geht um Macht und Hierarchie. Die Jüngeren fordern die Älteren heraus, die Älteren wollen den Platz nicht räumen, also werden die Jungen unterworfen. Das pflanzt sich über Generationen fort. Wenn einem das selbst widerfahren ist, war es vielleicht sogar eine Art der Verarbeitung, später selbst zu pastern. Viele Opfer sind zu Tätern geworden. Pastern war in einer perfiden Art etwas Normales, Alltägliches. Lehrer oder Erzieher waren beim Pastern nicht dabei, sie wissen aber oft, was läuft, weil sie selbst in Stams im Internat gewesen sind.

STANDARD: Haben es alle Gepasterten geschafft, das irgendwann wegzustecken?

Ganz sicher nicht. Das hat viele traumatisiert, einige schwer. In Stams werden nur die Besten aufgenommen. Manche sind selbst vom Ehrgeiz zerfressen, bei anderen stehen ehrgeizige Eltern dahinter. Viele von denen schaffen aber die ersten ein oder zwei Jahre ohnehin nicht. Das hatte sicher auch mit dem Pastern zu tun, das systemimmanent war. Dieses System hat viele junge Menschen gebrochen und in Identitätskrisen gestürzt – eine große Masse, über die nicht gesprochen wird. Die Aussage "Wer bei uns in Stams abschließt, steht besonders stabil und erfolgreich im Leben" finde ich zum Kotzen. Viele müssen die erlebten Härten ein Leben lang aufarbeiten, Hilfe kriegen die wenigsten. Das erklärt die hohe Drogenquote bei Abbrechern.

STANDARD: Und die, die stabil im Leben stehen und vielleicht im Sport erfolgreich wurden, haben das Pastern einfach verdrängt?

Es ist die Mentalität von Spitzensportlern, ans Limit und drüber zu gehen. Das tun sie täglich. Man riskiert und man stumpft ab, man vergewaltigt den eigenen Körper, indem man immer wieder über die eigenen körperlichen Grenzen zu gehen versucht. Dadurch wird vieles normal. Mit dem Thema Sexualität gehen dann viele Jugendliche ähnlich um, da steht sicher nicht die Einfühlsamkeit im Vordergrund. Da wird vieles normal, was in der Welt außerhalb des Sports weit weg von normal ist.

STANDARD: Wie groß ist der Einfluss der Trainer und Serviceleute?

Die haben enorme Macht. Wen stellt der Trainer fürs Rennen auf, wenn er annähernd gleich gute Läuferinnen hat? Welcher Läuferin gibt der Servicemann den schnellsten Ski? Was muss sie dafür tun? Mich wundert gar nicht, dass viele Sportlerinnen und Sportler sexuell freizügig waren und sind. Wenn man das System durchstehen will, muss man locker mit dem Thema umgehen und die Macht- und Gewaltkomponente annehmen oder verdrängen. Sonst wird man ausgesiebt und sich selbst überlassen. Jeder will die Nummer eins werden. Die Nummer zwei interessiert kaum noch. Und der, der Stams schon nach drei Wochen verlassen hat, weil er es psychisch nicht gepackt hat, interessiert niemanden.

STANDARD: Nicola Werdenigg hat über ihre eigene Vergewaltigung durch einen Teamkollegen in den 70ern berichtet und angedeutet, sie wisse, dass es auch in den 2000er-Jahren zu Übergriffen kam. Wie stehen Sie zu Werdenigg?

Ihren Schritt an die Öffentlichkeit finde ich toll, er zeugt von großer Stärke. Endlich wird an diesen über Jahrzehnte ausgebildeten Strukturen ernsthaft gerüttelt – erst jetzt, obwohl Generationen davon etwas mitgekriegt haben. Werdenigg hilft vielen Betroffenen und trägt dazu bei, künftige Gewalttaten zu verhindern. (Fritz Neumann, 2.12.2017)