Miriam L. sagt, sie und ihre Geschwister hätten früher Hilfe gebraucht: "Jemanden, der ihn endlich gestoppt hätte, ihn angerufen hätte, um zu sagen: 'Eduard, hör auf!'"

Foto: Christian Fischer

Am 12. Dezember entscheidet die Staatsanwaltschaft Graz, ob sie die Berufung gegen den Freispruch des wegen Quälens seiner vier Kinder angeklagten Arztes Eduard L. ausführt. Bisher hat sie die Berufung nur angemeldet. L. war am 29. September in Graz nicht rechtskräftig von dem Vorwurf freigesprochen worden, seine vier Kinder jahrelang gequält zu haben.

Die Kinder – drei Frauen im Alter zwischen 23 und 28 und ein 19-jähriger Sohn – haben mittlerweile Anzeige gegen Richter und Staatsanwalt wegen Amtsmissbrauchs bei der Korruptionsstaatsanwaltschaft erstattet. Sie werfen Richter Andreas Rom vor, wichtige Beweise und Zeugen nicht zugelassen zu haben, die ihren Vater belastet hätten. Am Montag brachte auch die Mutter, Christa C., eine Sachverhaltsdarstellung gegen Richter Rom ein. Darin verlangt sie, den Sachverhalt des Amtsmissbrauchs und der Verleumdung zu prüfen.

Die 23-jährige Tochter Miriam L. erzählt im STANDARD-Interview, wie es ihr nach dem Freispruch ihres Vaters geht. Die Studentin beschreibt dabei Angst und Wut auf ihren Vater und den Richter.

STANDARD: Wie haben Sie die Augenblicke erlebt, nachdem Sie über den Freispruch Ihres Vaters informiert worden waren?

Miriam L.: Wir waren alle im Schock. Meine Schwester Madlen hat eine SMS bekommen und sie uns anderen laut vorgelesen. Danach war 30 Sekunden, vielleicht war es auch eine Minute, totale Stille. Ich habe als Erste zu weinen begonnen. Dann habe ich meinen Bruder Josef auf dem Boden kauern gesehen, er hat auch geweint, und meine Schwestern haben versucht, ihn zu trösten. Ich habe das Gefühl gehabt, ich löse mich auf, ich habe nicht mehr gehen können. Ich habe mir dauernd gedacht: "Der kann machen, was er will, und ihm passiert nichts."

STANDARD: Sie sind kurz danach in die Psychiatrie eingeliefert worden.

Miriam L.: Ich war auf der Heimfahrt im Auto meines Freundes und konnte nicht mehr zu weinen aufhören. Ich habe mich gefragt: Was kann jetzt noch helfen? Wenn ein Kind sich das Leben nimmt und einen Abschiedsbrief schreibt, hilft das den anderen, hilft es uns, ernst genommen zu werden? Ich war in einem Zustand, den ich so vorher nicht gekannt habe. Ich habe Selbstmord nur positiv gesehen, als das Beste, was uns passieren kann. Ich habe erst niemandem etwas gesagt, aber dann doch meine Therapeutin angerufen.

STANDARD: Also doch ein Hilferuf?

Miriam L.: Vielleicht. Ich habe mir plötzlich gedacht, wenn mir noch jemand hilft, dann sie. Ich wollte ihr sagen, wie es mir geht. Sie hat mich schon länger betreut. Sie wusste sofort, es ist ernst. Sie hat die Psychiatrie am Grazer LKH informiert, und die haben mich sofort aufgenommen.

STANDARD: Wie lange waren Sie dann im Krankenhaus?

Miriam L.: Ungefähr einen Monat.

STANDARD: Und Ihre Geschwister haben Sie besucht?

Miriam L.: Anfangs habe ich viel Besuch bekommen, von meinen Geschwistern und meiner Mutter, aber dann kam der Punkt, da wollte ich nichts hören und nichts sehen. Ich habe Abstand gebraucht zu der ganzen Welt draußen. Man muss aufpassen, dass man Menschen nicht zu hassen anfängt.

STANDARD: Jetzt sind Sie in der Steiermark bei Ihrer Mutter. Als Sie aus der Psychiatrie entlassen waren, folgte die aufsehenerregende schriftliche Urteilsbegründung des Richters. Wie ging es Ihnen mit der?

Miriam L.: Ich habe einige Tage gebraucht, um nur den Teil zu lesen, in dem es um mich ging. Ich musste nach einem Drittel einer Seite schon aufhören, habe geschrien und geweint. Zu sehen, wie der Richter Sachen verdreht, war ein Wahnsinn. Zum Beispiel hat er geschrieben, ich hätte während der Einvernahme verlangt, einen Mistkübel neben mich hinzustellen, falls ich mich übergeben muss, da ich vor der Verhandlung mehrfach erbrechen musste. Die Betreuerin von "Rettet das Kind" hat aufgrund meines Brechreizes und Übelkeit einen Mistkübel hingestellt. Ich selber habe ihn nicht verlangt. Richter Andreas Rom verwendete den Mistkübel im Urteil, um gegen mich zu schreiben. Er stellte mich so hin, als würde ich einen bewusst hilfsbedürftigen und kindlichen Eindruck machen wollen.

STANDARD: Er schrieb, Sie würden zu einer gewissen Theatralik neigen.

Miriam L.: Aber ich habe das nie verlangt. Nie! Oder beim Schraubenzieher, den mein Vater sich in den Bauch gerammt hat. Der Richter hat es so dargestellt, als hätten wir uns darum gestritten, wer ihn herausziehen darf. Ich hätte nie gedacht, dass ich mehr Hass auf jemanden haben kann als auf Eduard, aber ich habe einen richtigen Hass auf den Richter. Er hat auch behauptet, Eduard habe mir nie Morphium gegeben, dabei hat er das dreimal selbst ausgesagt – vor der Kripo. Mein Eindruck war, dass der Richter den Akt nicht kannte und alles, was Eduard belasten könnte, einfach nicht zugelassen hat. Schon im Vorfeld hat er sich geweigert, Zeugen, die sehr belastend gegen ihn ausgesagt haben, zu Verhandlung zu laden. Er hat alle Beweisanträge unserer Anwältin unbegründet abgelehnt.

STANDARD: Welchen Eindruck hatten Sie während Ihrer Einvernahme vom Richter?

Miriam L.: Am Anfang war er sogar ganz nett. Aber dann war da ein Moment, wo er mich plötzlich aus der Bahn geworfen hat.

STANDARD: Welcher Moment?

Miriam L.: Er hat mich gefragt, warum die Anzeige gegen meinen Vater so spät kommt. Ich habe ihm erklärt, dass wir große Angst vor ihm hatten. Und dann war da noch der angebliche Selbstmord vom Vater einer Ex-Freundin Eduards. Sie hat uns auch erzählt, dass Eduard gedroht habe, unser Haus samt Inhalt in die Luft zu sprengen. Da wurde der Richter auf einmal sehr zornig. Er ist laut geworden und hat gesagt: "Das war ein Selbstmord!" Aus dem Akt wissen wir aber, dass an der Leiche keine Schmauchspuren gefunden wurden und dass die Tatwaffe eine nicht registrierte Waffe von Eduard war.

STANDARD: Die Staatsanwaltschaft Graz hat bestätigt, dass dieses Verfahren wegen Mitwirkung am Selbstmord gegen Unbekannte geführt und abgebrochen, aber bis heute nie eingestellt wurde.

Miriam L.: Eben. Uns hat das jedenfalls Angst gemacht.

Miriam L. beim Spaziergang im Wiener Stadtpark am Montag.
Foto: Christian Fischer

STANDARD: Wie sieht Ihr Tagesablauf derzeit aus?

Miriam L.: Ohne Schlaftabletten und Antidepressiva geht gar nichts. Ich bereite mich gerade auf die nächsten Prüfungen vor.

STANDARD: Sie studieren in Graz?

Miriam L.: Ja, das Studium gibt mir eine gewisse Struktur, aber die Tage sind auch eine Achterbahn.

STANDARD: Sie leben in einer kleinen Gemeinde. Wie reagieren die Menschen da auf Sie?

Miriam L.: Ich bin meistens im Haus, manchmal mit meiner Mutter beim Billa oder auf der Bank. Aber ich bekomme nur positive Rückmeldungen. Mama wird oft angeredet, und die Leute sind sehr lieb. Sie glauben uns. Einige haben auch sehr negative Erfahrungen mit ihm gemacht.

STANDARD: Hören Sie auch etwas von Ihrem Vater?

Miriam L.: Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass er angeblich unserem Bruder heuer ein neues Auto gekauft hätte, was völlig unwahr ist. Auch habe ich von mehreren Seiten die Lüge gehört, dass wir Kinder alle bei ihm wohnen. Manche Patienten erzählen so was. Das sind aber noch die harmlosen Geschichten, die verbreitet werden.

STANDARD: Zurück in Ihre Kindheit: Sie sagen, Ihr Vater habe oft mit Selbsttötung gedroht. Ihr Großvater hat sich tatsächlich das Leben genommen. Machten Ihnen die Drohungen deshalb besonders Angst?

Miriam L.: Mir hat das nur als Kind Angst gemacht. Ich habe große Angst vor meinem Vater gehabt. Das war psychische Folter, ich habe mich oft vor ihm unterm Bett versteckt. Später habe ich gehofft, er erlöst uns und sich selbst und bringt sich um.

STANDARD: Wie erinnern Sie sich an Ihren Großvater?

Miriam L.: Ich habe auch vor ihm Angst gehabt. Ich bin ihm meist aus dem Weg gegangen. Er hatte etwas Aggressives an sich, und man wusste nie, wie man bei ihm dran war. Als ich noch sehr klein war, hat er sogar eine Zeitlang bei uns gewohnt, aber dann musste er ausziehen.

STANDARD: Erinnern Sie sich an seinen Tod?

Miriam L.: Ja, er hat sich vor einen Zug geworfen. Eduard bekam einen Anruf. Er hat aufgelegt und gesagt: "Opa ist tot." Dann ist er weggefahren. Er hat nicht traurig gewirkt.

STANDARD: Ihr Fall sorgt für besonders viel Aufsehen, weil Ihr Onkel ein bekannter Politiker ist und Sie mehrmals sagten, Ihnen werde deswegen nicht zu Ihrem Recht verholfen. Hat sich Ihr Onkel nach dem Urteil erkundigt, wie es Ihnen und Ihren Geschwistern geht?

Miriam L.: Nein, das interessiert ihn nicht. Ich glaube, der weiß nicht einmal, wie wir heißen. Nur seine Frau hat sich einmal bei Mama gemeldet, als die Zeitungen schon über uns geschrieben haben. Sie hat gemeint, wir sollten einmal reden. Ich habe meiner Mutter ihr Handy weggenommen und eine SMS zurückgeschrieben, dass sie sich zu spät meldet. Und jetzt nur noch ihren eigenen Arsch retten will.

STANDARD: Welche Art von Hilfe hätten Sie sich früher erwartet?

Miriam L.: Nach den vielen Drohungen hätten wir Schutz gebraucht und jemanden, der sagt, dass das nicht in Ordnung ist, was er uns antut. Jemanden, der ihn endlich gestoppt hätte, ihn angerufen hätte, um zu sagen: "Eduard, hör auf!" (Colette M. Schmidt, 5.12.2017)