Bei seinem Treffen mit über einem Dutzend Parteiführern in Bosnien-Herzegowina forderte der EU-Kommissar für Erweiterungsverhandlungen, Johannes Hahn, diese am Montag auf, endlich die Antworten auf den Fragenkatalog der EU-Kommission zurück nach Brüssel zu schicken, den diese bereits vor einem Jahr bekommen haben. Die Antworten sind Grundvoraussetzung für die Vergabe des Kandidatenstatus. Doch die bosnischen Politiker konzentrieren sich stattdessen bereits jetzt auf den Wahlkampf – kommendes Jahr im Herbst finden Wahlen statt.

Hahn warnte davor, dass die einmalige Gelegenheit, Fortschritte bei der EU-Integration machen zu können, versäumt werden könnte. Er erinnerte daran, dass EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im September eine Beitrittsaussicht für die sechs Balkanstaaten betont habe. Bisher fehlt es in Bosnien-Herzegowina bei der Beantwortung der Fragen etwa an einer Einigung über die Verbrauchersteuer und über eine Strategie bei der ländlichen Entwicklung.

Hahn: "Viel versprochen, nichts geliefert"

Hahn erwähnte lobend die Reformanstrengungen im Jahr 2016, allerdings sei es nun endlich notwendig, auch 2017 etwas zu erreichen, damit er eine Empfehlung für weitere Schritte geben könne. "Bis jetzt haben die Politiker nichts geliefert, aber viel versprochen", sprach Hahn bei der Pressekonferenz Klartext. Wenn es keine Ergebnisse gebe, würden die EU-Staaten auch dem Kandidatenstatus für Bosnien-Herzegowina nicht zustimmen. "Dann fällt das Land noch weiter hinter die anderen zurück, die ziemliche Fortschritte gemacht haben", sagte Hahn.

Hahn meinte, dass "fast" das meistverwendete Wort der bosnischen Politiker auf die Frage sei, ob und wann sie mit den Antworten fertig seien. Immer wieder würden sie versprechen, "nächste Woche" zu liefern, er aber glaube gar nichts mehr – "außer Fakten und Zahlen". Es gebe nun keine "Zeit für Entschuldigungen" mehr, stellte Hahn klar. Er verwies darauf, dass es auch andere Staaten mit komplexen Strukturen außer Bosnien-Herzegowina gebe und dass die Bosnier nun eben lernen müssten, mit der EU zu kommunizieren. "Wenn kein Kompromiss möglich ist, dann wird es auch keinen EU-Beitritt geben", sagte Hahn. Das Land könne jedenfalls nur als Ganzes und nicht in Teilen der EU beitreten, stellte er auch den Sezessionisten die Rute ins Fenster.

Die führenden bosnischen Politiker verzögern seit vielen Jahren den Reformprozess und die EU-Annäherung des Balkanstaates. Sie sind zu einem großen Teil nur an ihrem Machterhalt und der Durchsetzung ihrer Parteiinteressen interessiert. Um diese Ziele zu erreichen, propagieren sie fast täglich völkischen Nationalismus für die jeweilige Gruppe und schüren damit Angst vor neuerlichen Konflikten. Diese Angst fällt bei den bosnischen Bürgern auf fruchtbaren Boden, haben sie doch noch den Krieg (1992–1995) in Erinnerung.

In Bosnien-Herzegowina definieren sich viele Bürger je nach Religionszugehörigkeit – Muslime, orthodoxe Christen, katholische Christen – als Zugehörige einer "ethnischen Gruppe", also als Bosniaken, Serben, Kroaten. Diese Nationalisierung der Religionen wurde im 19. Jahrhundert verstärkt. Seit drei Jahrzehnten nutzen Politiker vermehrt diese Nationalismen, um die Bürger zu spalten und sie damit besser zu kontrollieren. Seit 2006 stagniert praktisch jegliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in dem Staat mit 3,5 Millionen Einwohnern. Viele Bürger wollen deshalb auswandern oder sind bereits ausgewandert. Auch der Säkularismus ist durch die mächtige Stellung der völkisch-religiösen Lobbyisten in Gefahr.

Bosnische Langsamkeit

Bei der Pressekonferenz mit Hahn fiel auf, dass eine Journalistin meinte, es sei "das erste Mal", dass die bosnischen Politiker "so langsam" seien. Und dies obwohl die bosnischen Politiker, wenn es um Reformen und die Umsetzung von Versprechen geht, seit vielen Jahren bei weitem und dauernd die langsamsten sind. Hahn meinte dazu etwas ironisch, dass er an die Langsamkeit "gewöhnt" sei.

Doch das Beispiel zeigt, dass viele Bosnier noch nicht einmal verstanden haben, dass es ihre politischen Führer und ihre Parteien sind, die dafür verantwortlich sind, dass die wirtschaftliche und soziale Situation so schlecht ist, sie wählen diese Parteien und diese Parteiführer nach wie vor. Ein Teil der Bosnier wählt sie allerdings, weil sie von diesen Parteien Jobs und damit soziale Sicherheit bekommen. Viele anderen Bosnier gehen gar nicht zur Wahl.

Fakten über Kriegsverbrechen werden nicht anerkannt

Ein weiteres Thema bei der Pressekonferenz war die fehlende Anerkennung der Fakten über den Krieg und die Kriegsverbrechen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Der völkisch orientierte Chef der größten bosnisch-kroatischen Partei, der HDZ, Dragan Čović, drohte kürzlich sogar den Weg Bosnien-Herzegowinas in die EU wegen des Urteils des Haager Kriegsverbrechertribunals gegen sechs Kroaten zu blockieren. Die sechs militärisch und politisch Verantwortlichen für den Krieg (1993–1994) zwischen kroatischen Einheiten (HVO) und der Armee von Bosnien-Herzegowina, in der hauptsächlich Muslime waren, waren am 29. November letztinstanzlich wegen zahlreicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 111 Jahren Haft verurteilt worden.

Das Gericht hatte zudem festgestellt, dass es sich bei dem Krieg um einen "internationalen Konflikt" gehandelt hat, dass also Kroatien als Staat im Krieg in Bosnien-Herzegowina involviert war, und dass auch der ehemalige Präsident Franjo Tuđman Teil einer gemeinsamen kriminellen Unternehmung war, die zum Ziel hatte, Menschen mit muslimischen Namen zu vertreiben. Das Urteil und der darauf folgende Suizid eines der sechs Verurteilten, nämlich des Ex-Generals Slobodan Praljak, hatte unter nationalistischen Kroaten in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina zu Protesten und Aufruhr geführt.

Reaktionäre Politik in Kroatien

Čović selbst sprach von dem Urteil sogar als von einem "Verbrechen gegen das kroatische Volk", obwohl das Urteil natürlich gegen Individuen und nicht gegen irgendein "Volk" gerichtet war. Er traf sich in der Folge mit dem kroatischen Premierminister Andrej Plenković, um über eine Revision gegen das Urteil nachzudenken, obwohl eine solche gar nicht möglich ist. Auch Plenković sprach von einem "Irrtum" im Zusammenhang mit dem Urteil. Die Reaktion der politischen Führung in Kroatien war vor ein paar Jahren bereits rationaler und weniger nationalistisch als heute. Der kroatische Präsident Ivo Josipović hatte etwa im Jahr 2010 in Sarajevo vor dem Parlament sein Bedauern darüber ausgedrückt, "dass die Republik Kroatien zum Leid der Menschen und der Spaltungen beigetragen hat, die uns seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts und heute noch quälen".

Hahn meinte zu den Reaktionen von kroatischen Kroaten und bosnischen und herzegowinischen Kroaten, dass es zu den "zentralen europäischen Werten" gehöre, die Urteile des Gerichts zu respektieren. Es könne sein, dass man mit einigen Urteilen nicht zufrieden sei, es sei aber eine andere Frage, ob man diese respektiere oder nicht. "Ohne den Respekt der Urteile gibt es keinen Fortschritt", so Hahn. Er selbst werde die Urteile nicht kommentieren, und er empfehle auch anderen Politikern, dies nicht zu tun. Es sei sehr wichtig, mit der Vergangenheit umzugehen.

Happy Christmas

Hahn wünschte "allen alles Gute" und verließ den Raum der EU-Delegation mit den Worten "Happy Christmas", was einen der anwesenden Journalisten dazu veranlasste zu sagen: "Wir sind hier Muslime." Das Beispiel zeigt wiederum, wie wenig den jeweiligen Angehörigen einer Religion in Bosnien-Herzegowina bewusst ist, dass es nicht nur um sie geht. In Sarajevo leben tatsächlich hauptsächlich Muslime, aber die Botschaft von Hahn richtete sich an alle Bosnier. Über 50 Prozent der Bosnier bezeichnen sich laut dem Zensus im Jahr 2013 als Muslime, über 30 Prozent als orthodoxe Christen und etwa 15 Prozent als Katholiken. Es gibt aber natürlich auch Atheisten und sogar Buddhisten. (Adelheid Wölfl, 4.12.2017)