Offseason nennen meine Mitläuferinnen und Mitläufer diese Zeit des Laufjahres. Offiziell, weil die wichtigen (oder für wichtig erklärten) Läufe zu irgendwelchen Finishermedaillen und -zeiten jetzt vorbei sind und dieses Spiel für die meisten dann erst im Frühjahr erst wieder beginnt. Inoffiziell aber aus einem ganz anderen, banalen Grund: Wenn es das Wetter so richtig "wäääh" ist, wenn das Licht außer fahl nur fahl ist – und bleibt – und es nicht einfach kalt ist, sondern sich die Kombination aus Wind, Feuchtigkeit und Kälte nachhaltig und stimmungstötend bis tief in die Knochen frisst, um dort zu bleiben, muss man schon mehr als sehr gerne laufen, um statt im Warmen zu kuscheln im Kalten zu frieren. Offseason ist da ein Euphemismus. Eine Ausrede. Eine Entschuldigung. Aber eine, die ich mehr als nur nachvollziehen kann.

Foto: Thomas Rottenberg

Lichtmangel und Nasskaltgrauslich trifft und zermürbt fast alle. Kein Wunder also, dass von Oktober bis knapp vor Weihnachten Wellnesshochsaison ist. In echten Thermen ebenso wie in Ecken und Regionen, die nur so tun als ob. Denn im Grunde ist es für 85 Prozent der "auf Wellness" Fahrenden schnurzpiepegal, ob da irgendwas Heilend-Therapeutisches im Wasser ist oder man es sich einfach gut gehen lässt. Egal wie man es sich schön, notwendig oder sonst wie legitim redet. "Offseason with benefits" wäre (nur zum Beispiel) eine Benamsung, die ich noch nicht ganz so oft gehört habe.

Aber damit das Faulenzen nicht ganz so faul und träge rüberkommt und neben dem vielen Essen auch noch das Gewissen schwer und schwerer macht, geht man halt doch raus. Ein bisserl zumindest.

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Ich bin da nicht anders oder gar besser als sonst wer. Und sicher nicht motivierter. Nur kenne ich mich: Nach dem Frühstück in einem Wellnesshotel bin ich so satt und bewegungsunlustig, dass ich die nächsten paar Stunden unter Garantie nimmer laufen gehe.

Blöderweise macht aber Herumliegen-im-Warmen, egal ob im Pool oder sonst wo, meistens genau gar keine Lust auf das Rausgehen-ins-Nasskalte. Und dann ist ja schon wieder Dämmerung. Es wird noch grausiger – und dann ist Abendessen.

Ergo: Will ich mich nicht ausschließlich wie ein auf die Hotelliege gespülter Pottwal fühlen, muss ich früh raus. Vor dem Frühstück. Also gefühlt mitten in der Nacht. "Nicht einmal den Hund ...", flucht Eva da regelmäßig. Vollkommen zu Recht. Da wir aber leider keinen Hund und auch keine eigene Katze haben, gibt es auch keinen Grund, bei den Tieren drin zu bleiben.

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Natürlich ist es grauenhaft. Am Anfang. Aber dann wird es besser. Erstens weil es eh nur besser werden kann. Zweitens aber weil man jetzt eh schon draußen ist und gegen das Frieren und die Steife der Beine da nur eines hilft: sich bewegen – und in Bewegung bleiben.

Und drittens hat man Ablenkung: Wir könnten uns jetzt darauf fokussieren, was alles elend, grausig und kalt ist – oder aber kurz die Köpfe heben. Und dieses jedes Mal aufs Neue einzigartige und überall und jeden Tag anders ablaufende Schauspiel genießen: jene Phase, wenn das erste Sonnenlicht von hinter dem Horizont den Himmel einzufärben beginnt – und lange, bevor die Sonne selbst aufgeht, davon erzählt, was Licht und Wärme alles können.

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Dass das eine Lüge, ein leeres Versprechen ist, tut da nichts zur Sache. Oder zumindest wenig. Aber vielleicht ist es ja auch genau das Gegenteil eines leeren Versprechens: Wir wissen ja ganz genau, dass diesem optimistischen Start nichts Adäquates folgen wird. Dass das hier die einzigen Momente des Tages sein werden, an denen die Kraftlosigkeit der Herbstsonne auf ihrer viel zu flachen Bahn nicht offensichtlich ist. Dass das kurze, rare und exklusive Augenblicke sind, die es zu nutzen gilt. Speichern. Mitnehmen. In den Tag hinüberretten.

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Stegersbach im Südburgenland wirbt damit, österreichweit die meisten Sonnentage zu haben. Wer das wie zählt oder misst, kann und will ich nicht beurteilen. Wobei die grundsätzliche Frage nicht ganz uninteressant ist: Wie lange muss die gelbe Scheibe eigentlich zu sehen sein, damit eine Region sich brüsten darf, an 300 von 365 Tagen Sonne zu haben? Wie stark, wie intensiv müssen die Strahlen sein?

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Und (und hier kommt der Sonnenaufgang ins Spiel) zählen auch Momente wie dieser? Also Augenblicke, die außer ein paar Rehen und drei oder vier einsamen Spaziergängern mit ihren Hunden niemand mitbekommt? Zählen die Sonnenimpressionen von zwei Läufern, denen später beim Frühstück und am Pool die anderen Hotelgäste nicht einmal ansatzweise zu verhehlen versuchen, dass sie derartige Ausflüge für, höflich gesagt, ein bisserl geisteskrank halten?

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Es gibt da nämliche ein Argument derer, die den Sonnenaufgang verschlafen, gegen das man schwer bis gar nicht ankommt: Es gebe, sagen sie, schließlich keine Garantie auf die Morgenlichtspiele. Das sei ein bisserl wie mit dem Nordlicht in polaren Regionen: Ob die Dunstwolkennebelregendecke zu dick und dicht für die Herzausreißeraugenblicke ist, weiß man eben immer erst nachher.

Stimmt. Aber ich habe irgendwann für mich beschlossen, dass dieses Glas grundsätzlich mindestens halb voll ist und man mich vom Gegenteil jedes Mal erst und immer aufs Neue überzeugen muss. Und dass "halb leer" dann nur für diesen Einzelfall gilt.

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Ganz abgesehen davon, dass Laufen mich sowieso glücklich macht – und es neben dem Himmel immer 1000 andere Dinge gibt, die mir dabei ein Lächeln ins Gesicht zaubern: Es kommt immer drauf an, wie man da rein geht, was man draus macht – und ob man mit den Augen starr auf Strecke und Pulsuhr gerichtet mit ernster Miene und im Dienste der Seriosität der "Mission Laufen" unterwegs ist oder ob man sich Zeit und Raum und Luft für die kleinen Details neben und entlang der Strecke gönnt.

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Und dann wäre da noch der Blick aufs und ins Land: An klaren Tagen sieht man von der Aussichtswarte Burgauberg vom Geschriebenstein über den Hochwechsel bis zu den Karawanken. Aber auch an Tagen, an denen das Auge nicht ganz so weit schweifen kann, zahlt sich der Blick von oben aus – und sei es, um zu sehen, in welche Richtung es jetzt zurück zum Frühstück gehen wird. Das kann helfen, lange und hügelige Umwege zu vermeiden.

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Denn so exakt und präzise die Laufrouten der Region ausgeschildert sind, so unverlässlich ist die Markierung der (nach welchen rätselhaften Unterscheidungsgründen auch immer) als "Wanderweg" etikettierten Strecken. Selbstredend fehlen die Wegweiser aber nur an Schlüsselstellen und Abzweigungen, die sich nicht von selbst erklären. Dort, wo es einfach geradeaus weitergeht, findet man Schilder en masse. Immer. Auch wenn sie auf den Stegersbacher Wanderrouten mitunter plötzlich in die falsche Richtung weisen.

Es gibt übrigens noch eine dritte Wegekategorie: Nordic Walking. Aber zu hinterfragen, wo, wie und warum da die Unterschiede definiert werden, habe ich mittlerweile aufgegeben. Nicht nur in Stegersbach.

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Der dritte Morgen war dann wieder ganz anders: Geradezu tief verschneit (nach regionalen Kriterien) präsentierte sich die noch dunkle Landschaft beim Blick aus dem Fenster. Und beim ersten Schritt auf den Balkon war das auch durchaus echter, ernstzunehmender Schnee.

Freilich: Der Boden, die Landschaft, auf die der Schnee gefallen war, war noch nicht so weit. War zu warm, um die paar Zentimeter nicht schon in der Morgendämmerung von unten her an- und aufzutauen, und ließ den jungfräulichen Schnee im Laufe der grauen Stunde, in der wir unterwegs waren, an vielen Stellen von unten heraus einen bräunlichen Ton annehmen.

Foto: Thomas Rottenberg

Egal. Denn als erster Winterlauf der Saison taugte dieser Spazierlauf allemal. Der teils extrem tiefe und rutschige Boden machte uns allerdings noch langsamer, als wir es ohnehin angegangen wären.

Der Haken: Dort, wo ich den offiziellen Wanderweg deshalb – auch um vorhersehbar noch rutschigere Wald-Hügelpassagen zu vermeiden – adaptierte, wollten uns zwei offensichtlich in einander widersprechende Richtungen zeigende Markierungen dann nach Taka-Tuka-Land, Ungarn oder Tirol lotsen. Also taten wir das, was ohnehin in neun von zehn Fällen mehr Spaß macht: Wir liefen einfach nach Gefühl weiter – und fanden uns bald in irgendwelchen Zwischentälern und Senken, auf namenlosen Kuppen, vor Pferdekoppeln und Schweineställen oder einfach irgendwo: perfekt.

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Auch weil Verirren light in so einem Umfeld gefahrlos ist: Mit nassen Schuhen, ohne Handy oder Notfallausrüstung und auch nur die geringste Ahnung, wo ich überhaupt bin, im Winter in alpinen Zonen unterwegs zu sein wäre fahrlässig, töricht und lebensgefährlich. Aber – he! – wir sind hier im Burgenland! Stegersbach, der Ort, ist immer nur ein oder zwei Kuppen entfernt. Und im allerschlimmsten Fall klopft man halt einfach an eine Tür und lächelt freundlich: "Von drauß vom Walde kommen wir her ..."

Foto: Thomas Rottenberg

Aber das war, eh klar, gar nicht nötig: Selbstverständlich waren wir immer rechtzeitig zum Frühstück zurück. Und füllten Speicher, die wir unterwegs gar nicht geleert hatten, großzügigst auf, bevor wir uns "der Wellness" widmeten und schon zu Mittag davon erschöpfter, müder und hungriger waren als an regulären Arbeitstagen am Schreibtisch.

Das Fazit: Ich kam nicht nur um drei schöne Läufe reicher, sondern auch um zwei Kilo schwerer aus dem Burgenland zurück nach Wien. Aber das macht nix: Schließlich sind wir ja in der Offseason. (Thomas Rottenberg, 6.12.2017)


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