Nach Theresa Mays dramatischem Rückzieher in Brüssel hatte es Brexit-Minister David Davis am Dienstag sehr eilig, rechtzeitig zu Krisengesprächen in der Downing Street einzutreffen.

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Eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland? Zollschranken? Oder gar ein komplettes Umdenken der Londoner Brexit-Strategie? Vierundzwanzig Stunden nach dem dramatischen Rückzieher, mit dem Premierministerin Theresa May einen bereits ausgehandelten Kompromiss wieder vom Brüsseler Verhandlungstisch nahm, überwog in London am Dienstag die Ratlosigkeit.

Mit dem Besuch in Brüssel, wo sie mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk zusammentraf, wollte die 61-Jährige eigentlich die erste Brexit-Verhandlungsphase abschließen. Dazu müssen drei Probleme vom Tisch:

Über die zukünftige rechtliche Situation der rund vier Millionen EU-Bürger auf der Insel und rund einer Million Briten in der EU gibt es weitgehende Einigkeit – auch wenn sich London noch sträubt, dem Europäischen Gerichtshof mehr als höchstens eine beratende Funktion einzuräumen. Auch der Streit ums liebe Geld scheint beigelegt. Vergangene Woche akzeptierte London die von der EU errechneten Brutto-Verbindlichkeiten von rund 98 Milliarden Euro. Netto wird die Insel über mehrere Jahre zwischen 40 und 55 Milliarden Euro in Brüssel einzahlen müssen.

Streit über irische Grenze

Hingegen stoßen bei der Frage der inneririschen Grenze die Meinungen hart aufeinander. London wollte der Dubliner Regierung von Leo Varadkar, dessen Linie vom Rest Europas unterstützt wird, entgegenkommen: Zwischen den Inselteilen solle eine "Regelangleichung" ("regulatory alignment") stattfinden, damit die vielerorts kaum noch sichtbare Landgrenze nicht zur harten EU-Außengrenze wird. Dublin hatte zuvor "keine Regelabweichung" ("no divergence") gefordert, zeigte sich aber mit der neuen Formulierung zufrieden. Dabei lässt diese die Möglichkeit offen, dass London zwar nahe an den Regeln des Binnenmarktes bleibt, diese aber selbst bestimmt.

Das genügt den Belfaster Unionisten nicht. Diese ärgerten sich über triumphale Medienberichte aus Brüssel und die vermeintliche Taubheit der Londoner Regierung. Ihre Partei werde nicht zulassen, dass in Nordirland "andere Regeln" gelten als im Rest des Vereinigten Königreichs, sagte DUP-Chefin Arlene Foster.

Das ist Unsinn, schließlich gibt es in der zu 70 Prozent vom Londoner Tropf abhängigen Provinz weder die Ehe für alle noch legale Abtreibung. Auch verschweigt Foster, dass ihre Partei bei der Regionalwahl im März 29 Prozent und bei der Unterhauswahl im Juni 36 Prozent der Stimmen erhielt – sie kann kaum für eine Mehrheit der Nordiren sprechen. Im Gegenteil: Die DUP warb beim Referendum 2016 als einzige große Partei für den Brexit, 56 Prozent der Nordiren stimmten für den EU-Verbleib.

Schwierige Allianz mit DUP

Aber May ging nach der Unterhauswahl, bei der sie ihre eigene Mandatsmehrheit verloren hatte, panikartig ein Bündnis mit den zehn Mandatsträgern der DUP ein. Zudem würden mindestens ein Dutzend ihrer eigenen Abgeordneten sowie einige Labour-Hardliner gegen den Irland-Kompromiss stimmen, wenn es im Unterhaus zur Abstimmung käme.

Warum May dann aber die Abstimmung mit Foster nicht suchte, ehe sie in Brüssel den Kompromiss anbot, bleibt schleierhaft. Bei Mays Regierung, höhnte Labours Brexit-Sprecher Keir Starmer, handle es sich um "eine Peinlichkeit: die Chaoskoalition".

Eine Erklärung für den Kommunikationsbruch zwischen London und Belfast könnte darin liegen, dass die Konservativen seit 2010 das früher eminent wichtige Nordirland-Ressort mit lediglich zweit- oder drittklassigen Politikern besetzt haben. Ihren Vertrauten Gavin Williamson musste May vergangenen Monat mangels Alternativen zum Verteidigungsminister machen. Ihr Regierungsvize Damian Green ist durch peinliche Sexvorwürfe, die gegen ihn erhoben werden, abgelenkt. Womöglich fehlt der Premierministerin schlichtweg ein zuverlässiges Bindeglied zu Belfasts Hardlinern.

Druck aus der eigenen Partei

Unter Druck gerät May aber auch vonseiten des liberalen Flügels ihrer Partei. Die Schottin Ruth Davidson mahnte London dazu, es dürften die Teile des Landes nicht unterschiedlichen Regeln unterworfen werden. Aber vielleicht, so die EU-Freundin listig, könne die "Angleichung" ja fürs ganze Land gelten? Die englische Parteifreundin Anna Soubry ging noch weiter: Ihre Regierung solle doch die weitere Mitgliedschaft in Binnenmarkt und Zollunion erwägen.

Womöglich schon heute, Mittwoch, will May erneut in Brüssel auftauchen. Die "irische Frage" hat sich schon für viele ihrer Vorgänger als Stolperstein erwiesen. Wenig deutet darauf hin, dass May dem derzeitigen Felsbrocken ausweichen kann. (Sebastian Borger aus London, 6.12.2017)