Dass Wien trotz des Bevölkerungswachstums nicht im Verkehr erstickt, ist auch den städtischen Wiener Linien zu verdanken.
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Läuft gut

Diese Sätze haben Gewicht. Schließlich sind sie nicht am Stammtisch in einem Wiener Tschecherl gefallen, sondern stammen vom wohl künftigen Bundeskanzler. "Die Zeit des Wegschauens ist vorbei. Es gibt genug Wiener, die sich überlegen, in einen anderen Bezirk umzuziehen, weil sie sich in ihrer Gasse mittlerweile etwas fremd fühlen", sagte ÖVP-Chef Sebastian Kurz Ende September über seine Heimatstadt. "Die Zuwanderung muss reduziert, und die Integrationspolitik in Wien muss verändert werden."

Stadt der Zuwanderer

Die Angst vor dem Fremden ist eine der Hauptingredienzien, mit denen die neue ÖVP unter Kurz sowie die FPÖ in ihren Botschaften beim Wahlvolk punkten konnten. Dabei war Kurz ab 2011 Integrationsstaatssekretär und ab 2014 Integrationsminister. Die rot-grüne Stadtregierung befürchtet wohl zurecht eine Fortsetzung des politischen Angriffs auf Wien, sollte Schwarz-Blau im Bund kommen.

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Dass Wien eine Stadt der Zuwanderer ist, lässt sich nicht von der Hand weisen. Jeder zweite Wiener hat Migrationshintergrund, mehr als jeder Dritte wurde im Ausland geboren. 1961 betrug der Anteil ausländischer Staatsbürger in Wien nur 1,5 Prozent, aktuell sind es bereits 29 Prozent (534.532 per 1. Jänner 2017). In den vergangenen Jahren hat Wien auch einen Bevölkerungsboom erlebt, der zu großen Teilen auf Zuwanderer zurückzuführen ist: Seit 2007 ist die Bevölkerung um fast 13 Prozent von 1,66 Millionen auf 1,87 Millionen gewachsen.

Sinkende Kriminalität

Die Kriminalität ist trotz der enormen Zuwanderung aber nicht explodiert. Im Gegenteil: 2015 wurde in Wien die niedrigste Zahl von Anzeigen seit 15 Jahren registriert. Auch im Jahr 2016 blieb die Zahl trotz Anstiegs deutlich unter jener von 2007, als es in Wien noch rund 170.000 Einwohner weniger gab. Herausfordernd nannte das Bundeskriminalamt in seinem aktuellen Bericht "Sicherheit 2016" aber unter anderem "das bandenmäßige Auftreten bestimmter Ethnien samt Gewalt- und Raubkriminalität und die Kriminalität durch nordafrikanische Staatsangehörige". Die Reduzierung dieser Probleme stand auch für 2017 auf der Agenda.

Gründe, weshalb das subjektive Sicherheitsgefühl der Wiener Bevölkerung so gesunken ist, ließen sich bislang auch mit Zahlen aus dem ersten Halbjahr 2017 nicht untermauern: Im Vergleichszeitraum zum Vorjahr nahmen die angezeigten Fälle um fast sieben Prozent ab.

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Dass Wien trotz der Bevölkerungsentwicklung nicht im Verkehr erstickt, ist auch den städtischen Wiener Linien zu verdanken. 2,6 Millionen Menschen werden pro Tag mit den öffentlichen Verkehrsmitteln befördert, die Fahrgastzahlen sind seit 1995 um ein Drittel angestiegen. Der Ausbau und die Wartung des Netzes kann freilich nicht ganz mit der Dynamik der wachsenden Stadt mithalten. Sprich: U-Bahn, Bim und Bus werden voller. Größere Entlastungseffekte soll das U2/U5-Liniennetz bieten, das erst 2026 verkehrswirksam wird.

Billige Öffis

Europaweit einmalig im Preis-Leistungs-Segment ist das 365-Euro-Jahresticket. 760.000 Kunden haben eines – mehr als doppelt so viele wie vor der Einführung 2011. Ohne mächtige Zuschüsse ist das nicht möglich: Der Investitions- und Betriebskostenzuschuss der Stadt beträgt rund 600 Millionen Euro.

Die Investitionen der Stadt in den Radverkehr haben zwar Auswirkungen auf die Luftqualität, wenn Autolenker teils auf Drahtesel umsteigen. Im Modal Split, also der Verteilung der Verkehrsmittel, macht sich das beim Anteil des Radverkehrs aber noch nicht bemerkbar: Dieser stagniert seit Jahren bei sieben Prozent.

Freizeitoasen

Für die auch im internationalen Vergleich hohe Lebensqualität sind neben der Infrastruktur auch frei zugängliche Freizeitoasen wie Alte und Neue Donau, Donauinsel und Lobau verantwortlich. Herausragend ist der soziale Wohnbau: Mehr als 60 Prozent leben in geförderten Wohnungen. Dieser Anteil dämpft auch die gesamte Mietpreisentwicklung.

Laut einer Auswertung der Statistik Austria für den STANDARD hat sich die durchschnittliche Miete in einer Hauptmietwohnung inklusive Betriebskosten von 402 Euro im Jahr 2009 auf 503 Euro (2016) erhöht, also um rund 25 Prozent. Teurer sind Mietwohnungen in Salzburg (562 Euro), Vorarlberg (561) und Tirol (540). Laut dem Onlineportal Immobilienscout24 kostete aber jede zweite im Jahr 2017 auf dem freien Markt ange botene Wohnung in Wien mehr als 1000 Euro Monatsmiete.

Läuft schlecht

Es sei "bemerkenswert", sagte Wiens Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) in einem STANDARD-Interview, und meinte das "Wien-Bashing", das ein ganz bestimmter Wiener betreibe, nämlich Sebastian Kurz, ÖVP-Chef. "Das ist fernab jeder Faktenbezogenheit."

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Ganz aus dem Nichts kommt das "Bashing" aber dann doch nicht. Während andere Bundesländer bei der bedarfsorientierten Mindestsicherung einsparen, gilt in Wien der Weg: "Kürzen bei den Ärmsten machen wir nicht", so Häupl. Das führte allerdings auch dazu, dass sich die Zahl der Mindestsicherungsbezieher von 106.675 Personen 2010 in sieben Jahren fast verdoppelte. Für 2017 werden 208.000 Bezieher prognostiziert. Das spiegelt sich natürlich in den Ausgaben für die Sozialhilfe wider. Von 290 sind sie auf 693 Millionen gestiegen.

Steigende Schulden

Und das, obwohl der Stadt die Schulden über den Kopf wachsen. Bis 2006 baute die Stadt ihr Minus ab, seither erlebt sie von Jahr zu Jahr Rekordhochs. Stand Wien 2007 mit 1,39 Milliarden Euro in der Miese, sind die Schulden bis Ende 2016 in nur neun Jahren auf rund sechs Milliarden angestiegen. Für 2017 budgetierte die Stadt ein Minus von 570 Millionen Euro. Damit würde der Schuldenstand mit Ende des Jahres auf etwa 6,6 Milliarden Euro anwachsen. Ob diese Zahlen halten, steht erst mit dem Budgetabschluss fest – der liegt Mitte 2018 vor.

Allerdings gibt es bekanntlich immer zwei Seiten der Münze. Und im Vergleich mit anderen Bundesländern sieht das Minus von Wien gar nicht so besorgniserregend aus. In der Pro-Kopf-Verschuldung (Länder- und Gemeindeschulden) liegt Wien mit 3724 Euro unter dem Durchschnitt. Kärntens Schulden sind mit 7913 Euro pro Bewohner mehr als doppelt so hoch, in Niederösterreich liegt die Pro-Kopf-Verschuldung bei 6061 Euro. Lediglich Tirol (822), Vorarlberg (1826) und Oberösterreich (2636) liegen unter den Wienern.

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In die Pro-Kopf-Verschuldung rechnet Wien gemäß ESVG 2010 alle Schulden des öffentlichen Sektors mit hinein, etwa der Wiener Linien, der Stadt werke oder des Krankenanstaltenverbunds (KAV). Letzterer allein hält derzeit bei einem Minus von 349,47 Millionen Euro.

Die Schulden des Spitalsträgers sind aber nicht der Grund, dass er als eines der Problemkinder der Stadt gilt. Seit 2010 wird am Krankenhaus Nord gebaut. Ursprünglich sollte es 2015 in Teilbetrieb gehen, nun soll es bis Ende 2017 baulich fertig werden. Erste Patienten dürften erst 2019 im Spital behandelt werden. Mehr als 8000 Mängel soll es laut einem Bericht des Rechnungshofs auf der Baustelle gegeben haben.

Kostenexplosion bei Spitalsprojekt

Und auch die Kosten für das neue Spital sind in die Höhe geschnellt. Statt den ursprünglich geplanten 825 Millionen Euro plus Valorisierung – also rund eine Milliarde Euro – soll der Bau laut Thomas Balasz, mittlerweile Ex-KAV-Direktor und ehemals für den Spitalsbau verantwortlich, im Best Case 1,29 Milliarden, im Worst Case 1,4 Milliarden kosten. Im günstigsten Fall belaufen sich die Mehrkosten auf etwa 300 Millionen, sonst auf 400 Millionen Euro. Bei beiden Summen geht die Stadt davon aus, dass noch Regressforderungen wegen Bauverzögerungen von rund 200 Millionen Euro abgezogen werden könnten. Gesundheitsstadträtin Sandra Frauenberger (SPÖ) beteuerte jedoch, dass die Mehrkosten ohnehin im mehrjährigen Stadthaushalt budgetiert seien.

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Bauen ist sowieso Streitthema: etwa die Neugestaltung des Heumarkts. Bis 2022 soll das neue Hochhaus in Wien-Landstraße stehen. Kritik kam von der Volksanwaltschaft. Sie erklärte in einem Bericht, dass die Flächenwidmung für das Heumarkt-Areal "unabhängig von dem individuellen Bauprojekt" erfolgen hätte müssen statt als "Wunschwidmung" für den Investor, sagte Volksanwältin Gertrude Brinek.

Aber auch von den City-Grünen kam Kritik. Seit dem umstrittenen Beschluss, der im Gemeinderat trotz des Neins der Basis mit den grünen Stimmen gefällt wurde, sägen sie am Stuhl der Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou. Die Entscheidung, wie es mit der Führung der Partei weitergeht, ist auf Sommer verschoben. Und nicht nur der Juniorpartner hat Führungsprobleme. Seit Häupl seinen Rückzug angekündigt hatte, ist die Nachfolge umkämpft. Dass die zerstrittenen Flügel der Wiener SPÖ sich derzeit vor allem um sich selbst kümmern, führt auch bei den Roten zum Machtvakuum. (Oona Kroisleitner, David Krutzler, 7.12.2017)