Mathias Rüegg über Ideen: "Dass mir nichts einfällt, passiert selten, dann gehe ich eben laufen."

Foto: HERBERT PFARRHOFER

Wien – Zu seiner gegenwärtigen Seelenverfassung gibt Mathias Rüegg keinerlei Kommentar ab. Sorgen sind jedoch unberechtigt. Rüegg, der am Freitag 65 wird, hat keine Zeit für introspektive Grübelreisen. Im Porgy & Bess wird er ab Donnerstag an drei Tagen wesentliche Aspekte seines historischen und aktuellen Schaffens – quasi neu durchdacht – präsentieren. Es gibt zu tun: Das verblichene Vienna Art Orchestra feiert für einen Abend Auferstehung. Dazu gibt es Beispiele klein besetzter Aktivitäten, die seit einigen Jahren um die Zusammenarbeit mit Sängerin Lia Pale kreisen. Zuletzt hat Rüegg für sie Lieder von Robert Schumann bearbeitet.

Die drei Porgy-Tage sollen "möglichst viele Facetten meiner Arbeit spiegeln – vor allem im Bereich ,Adaption klassischer Stücke'", sagt Rüegg , dessen Wahl auf Arrangeur Gil Evans und Komponistin Carla Bley fällt, wenn es darum geht, für ihn wesentliche Figuren des Jazz zu definieren. Beide hätten "im orchestralen Jazz Maßstäbe gesetzt" und wohl auch bei ihm Spuren hinterlassen. Wobei: Komponieren ist dann doch eine einsame Tätigkeit. Mit Anleihen bei Kollegen kommt ein ernsthafter Tonsetzer nicht weiter.

Laufen gehen

Beim Komponieren denkt Rüegg "zuerst an die jeweilige Besetzung, an die Dauer des jeweiligen Stückes, an das passende Tempo und an den intendierten Charakter eines Stückes." Das eindringlichste Glücksgefühl stellt sich beim 1952 in Zürich Geborenen aber ein, "wenn ich mit einem Stück tatsächlich fertig bin". Zum größten Komponierunglück wird ihm, "nicht in einem Fluss durchschreiben zu können. Das passiert mir allerdings äußerst selten. Wenn doch, gehe ich laufen."

Laufen stellt nicht die einzige inspirierende Abwechslung dar. Mittlerweile hat Rüegg für sich das Klavier und die Kommunikation innerhalb einer Band wiederentdeckt. Auch diese Tätigkeit wird wohl über Phasen der Inspirationslosigkeit hinweghelfen. Es gibt Hinweise dafür; das ausgiebige Üben nennt Rüegg jedenfalls "eine Lieblingsbeschäftigung".

"Zusammenspiel" als oberste Tugend

Dass er an die Spitze der von ihm verehrten Musiktugenden "das Zusammenspiel" stellt, überrascht dann nicht mehr. Obwohl es noch ein bisschen ungewohnt ist. Über Jahrzehnte war man gewohnt, Rüegg auf der Bühne nur von hinten zu sehen. Er dirigierte vornehmlich – und zwar das Art Orchestra. Öffentliches Klavierspiel galt bei ihm nicht gerade als en vogue. Zur diesbezüglichen Änderung der Prioritäten meint er: "Besser zu spät als nie." Diese Maxime schätzt Rüegg auch grundsätzlich. Im Porgy wird er – dirigierend und tastend – auch die Zeit zurückdrehen: zu jenem Augenblick im Jahre 1977, da er mit Saxofonist Wolfgang Puschnig einen Duoabend bei der Jazzgitti am Bauernmarkt hätte absolvieren sollen. Per Selbstbeschreibung bekam Pianist Rüegg im Vorfeld so etwas wie "kalte Füße", worauf die kleine Besetzung "praktisch täglich um einen Musiker und Performer" bis zur Big-Band-Größe zu wachen begann.

Am Ende stand jedenfalls der Beginn der über Jahrzehnte währenden Erfolgsgeschichte des Vienna Art Orchestra. Wer bedenkt, wie schwer es grundsätzlich war und ist, eine jazzige Großformation lebendig zu halten, kann ermessen, welches musikalisch-logistische Wunder hier vollbracht wurde. In jedem Fall wird dieses Duo-Konzert mit Puschnig nun am Freitag im Porgy nachgeholt – wie auch manches zu Komponierexzentriker Eric Satie. 1983 hatte Rüegg dessen Musik für das Art Orchestra adaptiert. Es wurde das Projekt The Minimalism of Erik Satie eines der markantesten und akklamiertesten des Kollektivs. Rüegg war das schon damals allerdings leicht suspekt.

Teile der Urbesetzung wieder dabei

Es habe – bei aller Qualität – einiges gegeben, das er als Arrangeur hätte eleganter lösen können. Nun hat Rüegg vier Stücke neu gestaltet – für das VAO, bei dem unter anderen wieder Sängerin Lauren Newton und Saxofonist Harry Sokal dabei sind. Also manche aus der Urbesetzung.

Was es für ein Gefühl ist, die Combo für einen Augenblick wiederaufleben zu lassen, "werde ich nach dem Konzert wissen", meint Rüegg. Nicht ausgeschlossen sind Wehmut, Zorn und die Hoffnung auf eine Wiederbelebung. Jedenfalls gibt es dazu von ihm kein Dementi. Die Organisation einer Großformation wäre allerdings wohl ein anstrengender Spaß. Das muss nicht mehr sein, Rüegg hat auch in dieser Hinsicht sein Managementpensum erfüllt.

Wäre der Schweizer nicht seinerzeit nach Graz zum Studium gekommen und wäre er nicht später nach Wien weitergezogen – es hätte das VAO nie gegeben und auch nicht den Jazzclub Porgy & Bess. Und auch der – zur international beachteten Auszeichnung gewordene – Hans-Koller Preis hätte nie das Licht der heimischen und internationalen Jazzwelt erlebt.

Sprache mit Wortschatz

Mit smarter Konsequenz hat Rüegg, der 1984 bis 1986 vom Down Beat zum besten Arrangeur gewählt wurde, dem Jazzgenre hierzulande Relevanz verschafft. Seine Definition? "Jazz ist eine Sprache mit ganz eigenen Regeln und riesigem Wortschatz." Zu den Regeln zählt er "Phrasierung, Rhythmik, kadenzielles Denken, entsprechende Harmonik und Melodik." Mehr dazu und zu anderem von Wolfram Berger. Er wird im Poegy ironische Texte Rüeggs vortragen – Motto: "From the Hippie To The Grey Old Man." (Ljubiša Tošić, 7.12.2017)