Gilles Simeoni, der korsische Pazifist, steht im Ruf, ein gemäßigter, aber unbeugsamer Politiker zu sein. Er gilt als der Architekt des Erfolges der korsischen Nationalisten.

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Lozzi ist ein kleiner Ortsfleck in den korsischen Bergen, erreichbar nur durch eine Straße, die sich vom Mittelmeer hochschlängelt. Die Fahrt geht vorbei am "maquis", dem dichten Gebüsch, das in Korsika auch eine übertragene Bedeutung hat: Hier versteckten sich jeweils die Kämpfer der korsischen Befreiungsfront FLNC, wenn sie sich mit den Gendarmen gerade wieder eine Schießerei geliefert hatten. Im Winter bläst der bissige Tramontane von den verschneiten Gipfeln herab.

Das langgezogene Dorf mit 130 Seelen birgt keinen besonderen Charme, doch das ist unwichtig für Gilles Simeoni, den Sieger der ersten korsischen Territorialwahl, die nach der Gebietsreform des vormaligen Staatspräsidenten François Hollande am Sonntag stattfand. Lozzi ist die Heimat zweier Hirtenfamilien. Die Simeonis stellten schon 1811 den Bürgermeister, und wenn Gilles Abstand von der französischen und korsischen Politik sucht, findet er hier oben in der frischen Luft Frieden. Der 50-jährige Anwalt ist seit den Wahlen die zentrale Figur der Mittelmeerinsel. Mit über 45 Prozent errang er im ersten Wahldurchgang vor einer Woche ein Traumresultat für die korsischen Nationalisten – und im zweiten am Sonntag eine deutliche Mehrheit mit 56,5 Prozent. In den Pariser Ministerien schaut man plötzlich sehr genau auf die "Ile de Beauté".

Das nächste Katalonien?

Ein Szenario wie in Katalonien soll sich auf Korsika nicht wiederholen. Diese Gefahr besteht fürs Erste nicht. Simeoni hat mit seinem Koalitionspartner Jean-Guy Talamoni vereinbart, die Frage der Unabhängigkeit zehn Jahre lang ruhen zu lassen. Beide wissen, dass das bettelarme Korsika auf die französischen Subventionen angewiesen ist. Sie verlangen vorerst nur eine verstärkte Autonomie mit einer zweiten Amtssprache neben dem Französischen – dem Korsischen. Den Festlandfranzosen wollen sie ein "Residenzstatut" aufzwingen, um den Bau protziger Villen an unverbauten Strände verhindern zu können. Populistische Slogans kämen Gilles Simeoni aber nicht über die Lippen. Der bekennende Anti rassist gibt sich gemäßigt, weder links noch rechts; vehement verurteilt er die Wandsprüche "Arabi fora" (also: "Araber raus") gegen die 50.000 nordafrikanischen Immigranten und Saisonarbeiter.

Seine Strategie besteht darin, den Druck auf Paris langsam, aber sicher zu erhöhen. Er ist kein extremistischer Hitzkopf, der sich nachts eine schwarze FLNC -Kapuze überstülpt, um wie in den berüchtigten "blauen Nächten" Bomben zu legen. Simeoni ist ein Polit- und Medienprofi, wie ihn die korsischen Nationalisten wohl noch nie hervorgebracht hatten.

Neue durchdachte Töne

Er räumte mit der Herrschaft der Clans in seiner Bewegung auf, und er überzeugte die letzten Häuflein des FLNC, die Waffen 2014 ganz niederzulegen. Kurz danach verjagte er die mächtige antiautonomistische Zuccarelli-Familie nach einem halben Jahrhundert aus dem Rathaus von Bastia und wurde selbst Bürgermeister der wichtigsten korsischen Stadt.

Der sportliche Bonvivant gibt sich locker lächelnd wie Emmanuel Macron in Paris, am liebsten im schicken Anzug und ohne Krawatte. Doch die korsische Leidenschaft wahrt er in seinem Blut. Sein Vater Edmond ist ein legendärer Separatist – gewaltlos zwar, aber bekannt geworden durch eine Besetzung einer Weingenossenschaft in Aleria im Jahre 1975, die mit dem Tod zweier Gendarmen endete. Gilles Simeoni ver teidigte 2007 den Hirten Yvan Colonna, Mörder eines von Paris geschickten Inselpräfekten, mit so viel Einsatz, dass er während der Verhandlung 15 Kilo abnahm. Aber er sagt klar: Nicht Terror, sondern steter Tropfen höhle den Stein, wie im Baskenland, in Katalonien oder Schottland.

Für die Regierung in Paris sind die neuen, politisch durchdachten Töne aus Korsika gefährlicher als ein FLNC-Attentat – denn sie werden neuerdings von der Mehrheit der 320.000 Korsen getragen. Simeoni ist wohl der erste korsische Nationalist, der in Paris ernst genommen wird. Macron tut also gut daran, den Mann aus dem kleinen korsischen Bergdorf nicht zu unterschätzen. (Stefan Brändle aus Paris, 10.212.2017)