Im Finale der Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ drängt sich die Frage auf, welchen EU-Kurs die künftige Regierung einschlagen wird. Bisher wurde viel Tamtam um sehr spezielle inländische Themen gemacht – Wiedereinführung von Schulnoten, Zwölfstundentag, Kammermitgliedschaft, zuletzt um das Rauchverbot.

Das sind alles wichtige Dinge. Die für Österreichs Zukunft viel entscheidendere Frage ist aber, in welcher Art sich das Land in der Europäischen Union entwickeln will. Möchte man bei der gemeinsamen Innen-, Außen- und Währungspolitik mitmachen, voll vom Außenhandel profitieren? Dazu herrscht das große Schweigen. Ersatzweise wird darüber spekuliert, wer Minister wird.

Deshalb ist jetzt vor allem ÖVP-Chef Sebastian Kurz gefragt. Ihm bleiben im Prinzip zwei Möglichkeiten: Er setzt auf historische Kontinuität, indem er die EU-Linie aller Vorgängerregierungen seit dem EU-Beitritt 1995 fortführt. Das bedeutet möglichst viel Integration. Österreich hat von der Schengen-Grenzöffnung über die Euroeinführung bis hin zur jüngsten Teilnahme an einer Militärkooperation immer mit "Kerneuropa" mitgemacht. Kanzler Wolfgang Schüssel machte unter Schwarz-Blau keine Ausnahme.

Der andere Weg wäre, dass Österreich aus Rücksicht auf die EU-Skepsis der Freiheitlichen, die noch auf Jörg Haider zurückgeht, eine europapolitische Wende vornimmt, sich in Richtung der Neoskeptiker in Osteuropa bewegt. Damit hat die FPÖ im Wahlkampf kokettiert.

Zuletzt hieß es zwar, die Freiheitlichen würden beim EU-Kanada-Freihandelsvertrag Ceta umfallen und im Nationalrat doch vollinhaltlich zustimmen. Und Kurz wolle die EU-Agenden ins Kanzleramt mitnehmen.

Aber was fehlt, ist eine europapolitische Generallinie über 2020 hinaus. Nach den Wahlen im Oktober reiste Kurz sofort nach Brüssel, garantierte den EU-Partnern von Jean-Claude Juncker und Angela Merkel abwärts, mit ihm werde es "eine proeuropäische Regierung" geben oder gar keine. Jetzt muss er liefern und diese schöne Erklärung mit Inhalt füllen. Zum Start seiner Regierung wird es dabei vor allem auf zwei Dinge ganz besonders ankommen.

Der Kanzler in spe muss vor den Europäern unmissverständlich darlegen, dass Österreich seiner Tradition einer konstruktiven Kraft treu bleibt und bei künftigen EU-Reformen nicht unter die Blockierer abdriftet.

Und er sollte zweitens vom Start an dafür sorgen, dass die Schatten der sogenannten EU-Sanktionen von einst, die vor allem von Frankreich wegen Bedenken gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ ausgegangen waren, beiseite geräumt werden. Um das bei maximaler Wirkung zu demonstrieren, gäbe es ein einfaches Mittel: Reisediplomatie. In Paris regiert gerade ein besonders reformfreudiger und überzeugter Europäer, Staatspräsident Emmanuel Macron. Kurz sollte ihn möglichst bald besuchen und dann gleich zu Angela Merkel nach Berlin weiterfahren. Österreich war immer im Zentrum der EU – und sollte dort bleiben. (Thomas Mayer, 12.12.2017)