Stephan Kimmig vermisst im Menschsein heute die Leidenschaft.


Foto: Robert Newald

Wien – Wie wollen wir künftig miteinander leben? Diese Frage kreist über unser aller Köpfe, seit sich Bruchlinien in der Gesellschaft auftun, die aus Wertedisputen resultieren oder aus asozialen Verhaltensweisen, die etwa durch #MeToo ruchbar wurden. Doch dort, wo die Frage hinzielt, ist es vorläufig leer. Zu weit driftet das Wir auseinander, als dass es verbindliche Übereinkünfte über Werte gäbe, die unser massiv verändertes Leben heute umfassen. Christliche Werte werden ausgerechnet von jenen beansprucht, die in ihrer Politik jeden Sinn für Solidarität über Bord geworfen haben. Wie also wollen wir leben – jenseits von Volksschulnoten und Raucherlaubnis?

"Dort, wo keine Politik mehr ist, springen die Populisten hinein", sagt Regisseur Stephan Kimmig im Standard-Gespräch. "Mit Ausnahme der ganz linken Parteien haben doch alle mitgemacht bei der Erodierung all unserer Werte." Kimmig inszeniert am Volkstheater Die Zehn Gebote nach der auch als Dekalog bekannten Fernsehfilmserie (1988-1989) von Krzysztof Kieslowski (1941-1996). Um Missverständnissen vorzubeugen: Die zehn jeweils circa einstündigen Filme sind keine Illustration der Zehn Gebote aus dem Alten Testament. Vielmehr handeln die Filme von ethischen Fragen, vom komplexen Gebilde Mensch, der im nicht weniger komplexen Gefüge aus Leben und Lebenlassen ins Straucheln gerät.

Kieslowski bettete das damals in eine vom kommunistischen System ausgehöhlte Gesellschaft an der Warschauer Peripherie. Die Filme führen hinein in ein sattes, chaotisches Leben mit all seinen Einbußen. Sie wirken in ihrer nicht konkludenten Ausrichtung geradezu wie eine Unterwanderung des biblischen Regelwerkes. Niemand macht etwas falsch, "alles" geht schief.

Mehr Leidenschaft!

Kimmig bezeichnet sein für das Theater aufbereitetes Zehn Gebote-Projekt als einen "Gegenentwurf zu den zurechtgezimmerten Identitäten, die man seit ein paar Jahren anscheinend haben soll". Und er meint damit jenen vom Neoliberalismus zurechtgestutzten Menschen, der heute einfach nur zu funktionieren hat. Dieser "posthumane" Zustand, der am Theater längst seine kritisch-karikierenden Entsprechungen gefunden hat (z. B. in maschinell-maskenhaften Inszenierungen von angesagten Regisseuren wie Ulrich Rasche, Susanne Kennedy oder Ersan Mondtag), geht mit fehlenden verbindlichen Werten einher. "Empathie und Solidarität", so Kimmig, "sind im Neoliberalismus aussortiert worden, alles Quatsch quasi. Wenn man die aber nicht mehr hat, bleibt nichts übrig außer: 'Ich mach mehr Geld als du!'"

Als Künstler kämpft er dafür, dass wir uns das Menschsein wieder antrainieren. Seine Inszenierung will mit höchst lebendigen Körpern antreten. "Denn das Leben stinkt, arbeitet, schwitzt und macht – wo ist das denn alles?!" Kimmig will sich "mit Wärme und Hitze hineinbegeben in diesen leidenschaftlichen Entwurf Kieslowskis". Dafür hat er gemeinsam mit Dramaturg Roland Koberg die serielle Erzählweise aufgelöst und sämtliche Figuren zu einer ineinander verzahnten Geschichte umgebaut. Das erinnert beim Lesen ein wenig an Robert Altmans Short Cuts, also an ein rührendes Bild von der losen "Verwandtschaft" der Menschen untereinander. Die Spieldauer wird unter drei Stunden bleiben.

Mit den Zehn Geboten kommt man heute nicht mehr weit, so Kimmig. "Es ist klar, dass wir ein neues Regelwerk brauchen, auf das wir uns verständigen wollen und das alles umfasst, was Menschen heute sein wollen und dürfen. Damit wird auch die Leerstelle sichtbar, mit der wir konfrontiert sind. Wir müssen uns neu zusammenfinden." (Margarete Affenzeller, 13.12.2017)