Nach 35 Jahren hat China seine Einkindpolitik beendet. Seit heuer schnellen die Geburtenraten für ein zweites Kind nach oben.

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Bei schönem Wetter treffen sich chinesische Mütter jeden Vormittag zum Plausch vor ihren Apartments in der Neubausiedlung Panyu. Die palmenumsäumten Straßen des Viertels in der Kantoner Südstadt sind mit Autos der Anwohner verstellt. Hier wohnen typische Mittelschichtfamilien. Fast jede Frau trägt ein Baby am Arm. Das Besondere daran: Es ist meist ihr zweites Kind.

Kinderwagen werden zur Schau gestellt, Informationen ausgetauscht, wo sich Windeln und gesunde Babynahrung online kaufen lassen. Unter den Autos stehen viele SUVs und neue Mehrzweckfahrzeuge. Der benachbarte Shenzhener Batterie- und Autokonzern BYD (Build Your Dreams) hat sich auf den neuen Bedarf eingestellt.

Auf der Kantoner Automesse stellte er einen Siebensitzer der Marke Song Max für die Zweitkindfamilie vor. Der Minivan bietet Platz für den Ausflug einer Kleinfamilie mit zwei Kindern plus Großeltern und Kinderfrau. Verstellbare Hintersitze, ein um 90 Grad drehbarer TV-Bildschirm und Internetverbindung gehören zur Ausstattung. Im Internet hat es den Spitznamen "Heiliges Gefährt für das zweite Kind." Auch internationale Autobauer haben sich auf die neue Kindpolitik in China bereits eingestellt.

Skepsis ist abgeklungen

Als Peking zum Stichtag 1. Jänner 2016 nach mehr als 35 Jahren beschlossen hatte, die Einkindpolitik zu beenden, zeigten sich in- und ausländische Medien erst einmal skeptisch. Chinas Stadtbürger würden kein zweites Kind wollen, war die einhellige Ansicht. Es sei ihnen zu teuer und zu unbequem.

Statistiken bestätigten ihre Zweifel. Ende 2016 veröffentlichte etwa der Allchinesische Frauenverband die Ergebnisse seiner Großumfrage unter mehr als 10.000 Eltern mit noch unmündigen Einzelkindern. Danach wollten 62 Prozent der Befragten keinen weiteren Nachwuchs, vor allem nicht in Metropolen wie Peking, Schanghai oder Kanton. "Sorgen dämpfen den Wunsch nach einem zweiten Kind", hieß es. 82,5 Prozent nannten Geldsorgen und Arbeitsstress, zu wenig vorhandene Kindergärten und Schulen. Sie hätten auch kein Vertrauen in die Babynahrung, zur Krankenversorgung und befürchteten schlechte Umweltbedingungen.

Nur zehn Monate später schrieb die Nachrichtenagentur Xinhua ganz anders: "Chinas Eltern sind optimistisch. Sie wollen ein zweites Kind." Den Stimmungsumschwung spiegelten auch nüchterne Zahlen wider. Von Jänner bis August wurden heuer in der Volksrepublik 11,62 Millionen Babys geboren. Mehr als die Hälfte von ihnen (52 Prozent) waren Zweitkinder.

Höchste Neugeburtenrate seit 2000

Schon im Vorjahr wurden fast 18,5 Millionen Neugeborene gezählt, die höchste Zahl seit dem Jahr 2000. 45 Prozent darunter waren Zweitkinder. Die Rate aller Neugeburten stieg offiziell auf 1,7 Prozent. Sie lag 2000 bis 2015 nur zwischen 1,5 und 1,6 Prozent.

Daraufhin hatte das "Nationalkomitee für Altenfragen" alarmiert die Verdopplung der Zahl der über 60-jährigen Chinesen auf 400 Millionen im Jahr 2033 prophezeit. China werde schneller alt als reich werden.

Für Peking war das einer der Hauptgründe, um abrupt seine Einkindpolitik zu beenden. Diese Maßnahme reiche nicht aus, warnen inzwischen Kritiker der staatlichen Geburtenplanung. Insgesamt würden zu wenig Kinder geboren, schrieb etwa der Bevölkerungsexperte He Yafu jüngst in der Zeitung "Beijng News". Es gebe zwar mehr Zweitgeburten, doch weniger Erstgeburten, weil die Gesamtzahl geburtenfähiger Frauen abgenommen habe. Nach mehr als drei Jahrzehnten der aufgezwungenen Einkindpolitik hätten sich auch die geburtenfähigen Jahrgänge unter den Frauen verringert.

2016 zählten Chinas Eltern mit Nachwuchs (null bis sechs Jahre) 221 Millionen Personen. Darunter waren 113 Millionen Kinder. Abgeordnete im nationalen Parlament (Volkskongress) forderten im März, die Geburtenbeschränkungen aufzuheben und finanzielle Anreize für Neugeborene anzubieten. Zudem müsse Peking in den Ausbau von Entbindungsstationen und Kinderkrippen investieren. Die Forderung nach einer freizügigeren Geburtenpolitik wird kommenden März wieder auf die Tagesordnung des Parlaments kommen, sagen chinesische Experten. Wirtschaftsverbände rechnen mit einer Liberalisierung.

Verbrauchertests boomen

Auf mehr Kinderreichtum in China stellt sich auch die 2015 in Peking gegründete, deutsch-chinesische Plattform für Verbraucherschutz Okoer.com ein. Das Gemeinschaftsunternehmen zwischen dem Frankfurter Ökotest und chinesischen Investoren lässt seit dem Frühjahr eine App entwickeln. Sie soll zum Neujahrsfest im Frühjahr 2018 auf den Markt kommen. "Die Verbrauchergruppe Eltern und Kind bis zu sechs Jahren ist unsere Zielgruppe", sagt der Hamburger Thomas Böwer, Geschäftsführer bei Okoer.com.

Laut Marktforschung komme dem neuen Segment großes Potenzial zu. Derzeit geben 60 Prozent aller Mütter zwischen 500 und 2000 Yuan pro Monat (63 und 255 Euro) für ihre bis zu drei Jahre alten Kinder aus, vor allem für Windeln, Babynahrung und Hygiene.

Viele chinesische Eltern vertrauen nach den Inlandsskandalen etwa mit gepanschter Milch den Auslandsprodukten. Bei Windeln, deren milliardenfache Nachfrage in den vergangenen fünf Jahren um jährlich zehn Prozent stieg, stammen nur 33 Prozent aus chinesischer Produktion. 67 Prozent werden aus Ländern wie Japan und Deutschland importiert.

Neues Geschäftsmodell

Okoer.com hat bisher 193 Tests von mehr als 2.000 ausländischen und chinesischen Produkten durchgeführt und veröffentlicht, die in China erworben und in deutschen Labors geprüft wurden. Das aufwendige Verfahren hat die unabhängige Verbraucherwebseite in der Bevölkerung populär gemacht. Mehr als ein Drittel (750) ihrer getesteten Marken und Warengruppen stammen aus dem künftigen neuen Schwerpunktbereich von Babynahrung bis zu Spielzeug.

Das Joint Venture will darauf ein neues Geschäftsmodell aufbauen, das von der Bewertung der Produkte bis zur Beratung beim Kauf reicht. In China will man der Zielgruppe Angebote und bezahlbare Dienstleistungen offerieren – von Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung bis zu Klubmitgliedschaften für werdende Eltern. Zweites Standbein ist die Kosmetik. "Mütter sind schließlich auch junge Frauen", sagt Böwer. Er formuliert einen ehrgeizigen Wunsch: "Wir wollen am Ende zur ersten Anlaufadresse für werdende Mütter, junge Väter und ihre Kinder in China werden." (Johnny Erling aus Peking, 15.12.2017)