"Worte und Bilder von überwältigender Schönheit": die Erzählerin Riikka Pelo.

Foto: Liisa Takala / Verlag C. H. Beck

Aus dem Moskau der Revolutionsjahre auf die Krim und zurück, dann nach Prag und Berlin; später nach Paris; von dort zurück ins neue, sowjetische Moskau um 1940; schließlich ins Arbeitslager im nordrussischen Workuta oder aber in den Freitod im tatarischen Jelabuga. Wer sich einmal mit dem unfassbar tragischen Leben der großen russischen Dichterin und ihrer Familie beschäftigt hat, wird nicht so bald damit aufhören können. Das Leben der Marina Zwetajewa (1892- 1941) wird vermutlich nie zu Ende erforscht und erzählt werden können. Nun hat die bedeutende finnische Roman- und Drehbuchautorin Riikka Pelo den Fokus auf die Beziehung Zwetajewas zu ihrer erstgeborenen Tochter Ariadna Efron (1912-1975) gelegt: Die beiden waren lebenslang durch Liebe und Hass miteinander verbunden, genauso aber durch Poesie und Kunst, durch ihr unstetes Leben und die unvorstellbaren Zumutungen ihrer Zeit.

Der umfangreiche Roman besteht aus zwei großen, raffiniert miteinander verflochtenen Handlungssträngen und einem dritten, der in lyrischer Prosa verfasst ist. Zeitlich umfasst der eine Strang nur wenige Tage des August 1923, als Zwetajewa allein mit Alja (Ariadna) in Vsenory nahe Prag lebt; der andere wiederum nur wenige Tage im August 1939 in Moskau und der Datschensiedlung Bolschewo, in der Zwetajewa mit Ehemann Sergej und dem halbwüchsigen Sohn Mur (Georgi) lebt. Erst gegen Ende des Romans kommen zwei weitere Schauplätze dazu: die Kleinstadt Jelabuga nahe dem tatarischen Kasan und das Arbeitslager Workuta im hohen Norden Russlands. Diese Passagen spielen an einem Augusttag des Jahres 1941.

Immer ist es brütend heiß

Jede dieser Gegenden versteht Pelo meisterhaft zu schildern. Immer ist es brütend heiß, die Felder an der Bahnlinie bei Bolschewo sind vertrocknet, der Weg zur Burg nahe Vsenory ist beschwerlich; einmal beendet ein heftiges Gewitter den Sommertag wie auch die Wanderung, die Marina mit Alja und einem Freund ihres Mannes unternimmt; die erwachsene Alja und ihr Verlobter gönnen sich eine ganze Wassermelone im Vorortzug aus Moskau. Es ist ebenfalls ein warmer Sommertag, an dem Alja, schon seit zwei Jahren im Arbeitslager inhaftiert, in einem ruhigen Moment hinter ihrer Baracke sitzt und körperlich spürt, dass Marina ihrem Leben ein Ende gesetzt hat.

Dennoch bietet der Roman auch etliche Episoden voller Lebensfreude: durchtanzte Nächte in Pariser Jazzklubs, die Partys der jungen Journalisten und Künstler im modernen Moskau, nächtliche Autofahrten durch Moskauer Straßen, Aljas leidenschaftliche Liebe zu ihrem Kollegen Mulja (Samuil Gurewitsch), nicht zuletzt ihre erfolgreiche Arbeit als Journalistin und ihr stilles Glück, als sie bemerkt, dass sie von Mulja ein Kind erwartet.

Kurze Freuden, unfassbares Leid

Ganz ruhig, ohne sich jemals zu beeilen, schildert Riikka Pelo die Regungen, Verwerfungen, Zweifel, die kurzen Freuden und das unfassbare Leid einer ganzen Reihe von Figuren: Neben Zwetajewas Mann Sergej Efron und ihren beiden Kindern ist da auch Marinas enger Freund und ihre lebenslange große Liebe Boris Pasternak, der spätere Verfasser von Doktor Schiwago. Aber auch weitere, weniger bekannte Persönlichkeiten, etwa Ariadnas Freundin Vera Traill, anfangs eine ebenso glühende Kommunistin wie Alja und ihr Vater, verleiten durch ihre lebendige Darstellung durchaus dazu, weiter über ihre Person zu recherchieren.

Dennoch bleiben Marina Zwetajewa und Ariadna Efron die zentralen Heldinnen dieses großen Romans; Marina zuerst als vom Leben gezeichnete junge Dichterin und Mutter, dann als bereits sichtlich gealterte Frau, und Ariadna zunächst als etwas seltsame Zehnjährige und später als selbstbewusste Endzwanzigerin. Das Verbindende der beiden Frauen wie das, was sie auf ewig trennt, erhält dabei genug Raum: Alja hat das Gespür für metrische Formen von der Mutter übernommen, wird aber keine Dichterin; den fehlenden Sinn für das Lebenspraktische teilt sie mit der Mutter nicht; dafür erweisen sich beide als große und tragische Liebende. Bei Ariadna ist das Maß des Leids aber noch um einiges voller: Ihr Verlobter Mulja Gurewitsch dürfte entscheidend an der Denunzierung und Verhaftung Aljas beteiligt gewesen sein.

Tadellose Übersetzung

Zu spät erkennen Alja und ihr Vater, dass ihre jahrelange Arbeit für den sowjetischen Geheimdienst ihnen im eigenen Land zum Verhängnis geworden ist; zu spät erkennt Marina, dass es sich nicht gelohnt hat, mit dem fünfzehnjährigen Sohn Mann und Tochter nach Moskau zu folgen. Trotzdem gibt ihnen der Roman zu keinem Zeitpunkt die Schuld und reflektiert ihre politische Haltung stets differenziert. Zudem überzeugt Unser tägliches Leben durch seinen durchgehend hohen literarischen Anspruch, der auch in der tadellosen Übersetzung von Stefan Moster erhalten geblieben ist.

Riikka Pelo, deren Recherche für dieses Buch enorm gewesen sein muss, erweist sich als große Erzählerin, die sogar für die poetischen Erinnerungen an Moskau, wie Marina sie von der zehnjährigen Alja vergeblich eingefordert hat, Worte und Bilder von überwältigender Schönheit findet. Ein großer Roman, selbst für ausgewiesene Kenner von Zwetajewas Biografie eine Entdeckung. (Jelena Dabic, 18.12.2017)