• Gaming Disorder – ein Überblick: In der neuesten Version des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, dem DSM-5 von 2013, taucht Gaming Disorder als Forschungsdiagnose auf, also noch nicht endgültig anerkannt. Das sind die Kriterien:
  1. übermäßige Beschäftigung
  2. Entzugssymptomatik (z.B. Reizbarkeit, Ängstlichkeit)
  3. Toleranzentwicklung, d.h. immer mehr Zeit muss investiert werden, um eine Wirkung zu erzielen
  4. erfolglose Versuche, den Spielkonsum zu kontrollieren
  5. Verlust von anderen Interessen, früheren Hobbys
  6. fortdauernder exzessiver Konsum trotz Wissens um die negativen Folgen
  7. Nutzen von Spielen, um negativen Stimmungen zu entkommen
  8. Verheimlichen des Ausmaßes
  9. Gefährdung von zwischenmenschlichen Beziehungen, Job, Ausbildung oder Karriere
  • Laut DSM-5 müssen fünf der neun Kriterien erfüllt sein, um eine Sucht zu diagnostizieren. Eine Studie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf stellte fest, dass demnach jeder zwanzigste Deutsche zwischen zwölf und 25 Jahren computerspielsüchtig ist – bei Jungs sei es sogar jeder Zwölfte.
  • Allerdings kritisieren viele Forscher die obigen Kriterien. So sei "übermäßige Beschäftigung" zu unklar definiert und pathologisiere alltägliches Verhalten, Entzugserscheinungen wiederum seien nicht genügend studiert. Der britische Psychologe Mark D. Griffiths, Leiter der International Gaming Research Unit, führt nur sechs Kriterien an und gewichtet diese zudem, wobei zwischenmenschlicher Konflikt für ihn der wichtigste Faktor ist. Laut Griffiths sollten für eine positive Diagnose alle seiner Kriterien erfüllt sein. "Die gute Nachricht ist, dass deutlich mehr als 99 Prozent der Leute, die mit Games zu tun haben, niemals alle diese Kriterien erfüllen", so der Psychologe.
  • Die Diskussion hat Folgen für die Aufnahme der Gaming Disorder in die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD). Die ICD ist der weltweite Standard für Therapeuten und Ärzte und wird von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlicht. Die neueste Auflage, ICD-11, soll voraussichtlich im Mai 2018 erscheinen.
Bild: Konami / Metal Gear Solid 5

Die Welt im Jahr 2027: Der Staat reguliert künftig den Zugang zu Videospielen. In Folge des Monopols werden Games nur auf Plattformen von staatlich lizenzierten Anbietern betrieben. Dazu gibt es begleitende Kampagnen, die Konsumenten vor "Spielsucht" warnen. Online-Gaming rückt in eine rechtliche Grauzone, Spiele wie "World of Warcraft" umweht plötzlich der Hauch des Verruchten und Verbotenen.

Das wäre wohl die Situation, wenn Videospiele ähnlich streng reguliert würden wie Glücksspiele. Das beschriebene Szenario klingt natürlich zunächst absurd: Computerspiel und Glücksspiel, Gaming und Gambling ist nicht dasselbe und dennoch lässt sich zugleich eine gewisse Artverwandtschaft in manchen Genres nicht verleugnen. Tatsächlich gibt es ein großes Thema, das in den vergangenen Jahren zunehmend Aufmerksamkeit gefunden hat und nun dem Medium – eventuell sogar in Form von Regulierung – zum Verhängnis werden könnte: Computerspielsucht.

Gaming Disorder

In einer vorläufigen Version des internationalen Klassifikationssystems für Störungen, ICD-11, erschienen dieses Jahr zum ersten Mal Gambling Disorder und Gaming Disorder gemeinsam unter dem Oberbegriff der Störungen durch süchtig machendes Verhalten. Sollte die Diagnose demnächst in der fertigen ICD-11 auftauchen, hieße das, dass Computerspielsucht offiziell von der Weltgesundheitsorganisation WHO anerkannt wäre. Das hätte Folgen für jeden, der gerne Computerspiele spielt. Und auch Fachleute debattieren heftig darüber.

"Die Spielehersteller verstehen was von Sucht", sagt Bert te Wildt. Er ist Leiter der Medienambulanz an der Ruhruniversität Bochum und Vorsitzender des Fachverbands Medienabhängigkeit. Seit 2002 beschäftigt er sich mit dem Thema. Während es für andere moderne "Krankheiten" wie Social-Media-Sucht noch keine klaren Nachweise gibt, sieht te Wildt Gaming Disorder als erwiesenes Störungsbild.

Video: Glücksspielmechaniken wie Lootboxen verschärfen die Problematik.
WIRSPIELEN

Abhängig gemachte Spieler

Ein Grund, in bestimmten Fällen von Computerspielsucht zu sprechen, liege in ihrer Wirkung. Studien hätten gezeigt, dass bei abhängigen Spielern Games einen ähnlichen neurobiologischen Effekt haben wie Drogen. Das Belohnungssystem im Gehirn wird angesprochen und es gibt Gewöhnungseffekte, wodurch Betroffene immer mehr zocken müssen, um die gewünschten Glücksgefühle zu erzeugen. Zum anderen hätten sich Spiele gewandelt. Digitale Vertriebswege und Free2Play erleichtern den Einstieg, und grenzenlose Open-World-Spielwelten laden zum Endloszocken ein.

Zudem sieht te Wildt "zunehmend eine Verschränkung von Glücksspiel und Computerspielen". Ein Beispiel dafür sind intermittierende Verstärkungen: Online-Spiele wie "Dota 2" oder "Overwatch" beinhalten Loot-Kisten, die auch käuflich erworben werden können und den Käufer mit zufällig generierten Items belohnen. Dieses Zufallsprinzip wiederum ist ein Mechanismus aus Glücksspielen – wer die beste Belohnung haben will, muss mehrere Anläufe starten. Laut te Wildt ist die Mehrheit der süchtigen Gamer von Online-Spielen abhängig.

Suchtproblem oder Suchtgenuss?

Freilich gibt es auch große Unterschiede zu anderen Formen der Sucht. Drogen und Alkohol haben schwerwiegende körperliche Folgen bis hin zum Tod, hinzu kommen Begleiteffekte wie Beschaffungskriminalität. Und auch wenn Games vermehrt auf Mikrotransaktionen und Echtgeldeinsatz bauen, funktionieren sie nicht ausschließlich nach den Prinzipien von Glücksspielen. Videospiele erfordern größeren Zeitaufwand und besitzen auch mehr "Suchtfaktoren" als den Nervenkitzel des Gewinnens. Was am Bildschirm hält, sind Story, Abenteuer, Levelaufstieg, Upgrades und Community – das können Blackjack und einarmige Banditen nur äußerst bedingt für sich in Anspruch nehmen.

Am Ende klingt es geradezu paradox, gerade das zu verteufeln, was gute Spiele auszeichnet. Ein süchtig machendes Spiel bedeutet doch eigentlich, dass der Entwickler tolle Arbeit geleistet hat, dass sein Werk uns bis zur letzten Sekunde motiviert? Durchzockte Nächte zählen für manche zu den Highlights ihres Gamerlebens. Und auch die Werbung baut darauf: "Dieses Spiel macht süchtig!", ruft das billige Browsergame uns entgegen, und meint das im positivsten Sinne.

Sozial ausgegrenzt

"Die meisten Gamer, die zu uns kommen, haben kaum noch soziale Kontakte", sagt Gordon Schmid, Leiter der Beratungsstelle Café Beispiellos in Berlin. Die Einrichtung war die erste Anlaufstelle Deutschlands für Glücksspieler, seit elf Jahren nimmt sie mit ihrem Programm Lost in Space auch Videospielsüchtige ab dem Jugendalter auf. 90 Prozent davon sind männlich.

Die Länge oder Häufigkeit des Spielens reicht laut Schmid nicht als Kriterium aus. Ein wichtiges Symptom ist, dass Spiele den Lebenswandel negativ beeinflussen und die sinngebende Funktion einnehmen, die sonst Familie, Freunde oder Hobbys innehaben. Während Drogenabhängige in der Regel extrovertiert sind und Kontakte im Real Life pflegen – das erleichtert es, an den Stoff zu kommen –, ziehen sich Computerspielsüchtige eher aus ihrem sozialen Umfeld zurück. "Wenn die Betroffenen jetzt sagen: Ich stell den Rechner aus, dann sitzen die da im Real Life und haben niemanden", erklärt der Sozialpädagoge Schmid.

Wenn man das Leben nicht mehr meistern kann

Der 23-jährige BWL-Student Julian hat vor vier Jahren eine Therapie bei Lost in Space begonnen, weil er sein Leben zu diesem Zeitpunkt nicht mehr meistern konnte. Er sei an einen Punkt gelangt, "wo alles Externe weggebrochen ist". Zunächst schwänzte er die Schule, später musste er sein Studium abbrechen, weil er entweder seine Zeit mit *League of Legends oder dem Gucken von LoL-Streams zubrachte. "Mir hat am Ende das Spielen kaum noch Spaß gemacht", sagt er.

Julian zeigte einige der Symptome, die typisch sind auch für Suchtverhalten: Konflikte mit der Familie, vernachlässigtes Sozialleben und immer wiederkehrender Kontrollverlust. Seinen schlimmsten Rückfall erlitt er mit "The Binding of Isaac," wo er Schlaf, Essen und Trinken fast bis zur völligen Erschöpfung vernachlässigte.

Kein Einzelfall

In Deutschland gibt es nicht wenige Fälle wie Julian. Allein die Beratung von Lost in Space nahmen 2016 fast 300 Leute in Anspruch. Die offizielle Anerkennung der Computerspielsucht könnte Betroffenen die Behandlung und Beratung erleichtern. Problematisch ist jedoch, dass es zum Störungsbild noch sehr viele offene Fragen gibt, etwa inwiefern Spiele für den sozialen Rückzug verantwortlich sind, oder eher eine Folge davon.

"Spielen ist ja immer Mittel für etwas anderes", sagt Julian. Manche Menschen haben psychische Probleme, Stress oder soziale Phobien, welche der eigentliche Grund für den Absturz sind. Häufig ist mangelndes Selbstwertgefühl ein Grund für exzessives Spielen. Er selbst war wegen Depressionen in Behandlung und ist nicht nur durch Online-Spiele suchtgefährdet, auch YouTube, TV-Serien, Online-Pornografie und Websites wie 9GAG lösten bei ihm Suchtverhalten aus. Letztlich entschied er sich deshalb für die Abstinenz von PC und Smartphones in seiner Freizeit.

Diagnose sehr umstritten

Das Modell der Computerspielsucht ist nicht nur deshalb umstritten. Einige Wissenschaftler protestieren gegen die Pathologisierung von Spielern und weisen darauf hin, dass die Kriterien so ungenau sind, dass je nach Definition 1 bis 50 Prozent der spielenden Bevölkerung betroffen sind. Teilweise ist es schwierig, anhand der Kriterien den Unterschied festzumachen zwischen Sucht und intensiver Beschäftigung mit einem Spiel, wie es bei E-Sportlern der Fall ist. Es stellt sich auch die Frage, inwiefern Psychologen, die seit Jahren zu dem Thema forschen, noch bereit sind, an ihren Schlussfolgerungen zu zweifeln. Und schließlich gibt es selbst unter den Befürwortern der Aufnahme der Diagnose ins ICD-11 noch Diskussionen (siehe Kasten).

Es zeigt sich, wie diffus die Konzepte teilweise sind. Handelt es sich nun um Gaming Disorder oder eine nicht näher spezifizierte Online-Sucht (die von Experten nie so allgemein formuliert wird)? Ist es sinnvoll, Symptome wie Entzugserscheinungen von stoffgebundenen Abhängigkeiten zu entlehnen? Und noch etwas anderes beunruhigt Spieler: Was wird die Politik tun?

Staatliche Maßnahmen

Als "Gift" und "Droge" bezeichnete Renmin Ribao, die offizielle Zeitung der Kommunistischen Partei Chinas, vor kurzem das Spiel "Honour of Kings". Jeder siebte Chinese spielt das Fantasy-RPG, etwa 80 Millionen davon täglich. Die Parteikritik an Spiel und Entwickler ist stellvertretend für das, was die gesamte chinesische Games-Branche seit der Jahrtausendwende durchmacht. China hat in Internet- und Gaming-Sucht ein soziales Problem erkannt, das es zu bekämpfen gilt.

Eine Maßnahme sah vor, dass Entwickler die tägliche Online-Spielzeit für ihre Spieler begrenzen müssen. Eine weitere zwang Hersteller in diesem Jahr, die Drop Rates von Loot zu veröffentlichen, um die Erfolgswahrscheinlichkeiten für gute Items offenzulegen. Letzteres ist auch beim Glücksspiel üblich.

130.000 Internetcafés geschlossen

Doch China ging in der Vergangenheit noch weiter. Zwischen 2005 und 2011 hat die chinesische Regierung laut eigener Aussage 130.000 Internetcafés geschlossen, die scheinbar ohne Lizenz operierten. Innerhalb eines Jahrzehnts entstanden 250 "Boot Camps", die die Internetsucht der Chinesen abtrainieren sollten. In zumindest einem davon wurde zeitweise auch Elektroschocktherapie eingesetzt.

In südostasiatischen Ländern ist das Suchtproblem ausgeprägter als in westlichen Gesellschaften. Es lässt sich schwer abschätzen, was die Anerkennung der Gaming Disorder durch die WHO dort noch zum Guten oder zum Schlechten verändern wird. Für betroffene Süchtige in Deutschland scheinen die Folgen erst einmal positiv. Mit einer offiziellen Diagnose bekämen sie stationäre Aufenthalte in Kliniken von der Krankenkasse bezahlt. Für Wissenschaftler würde die Anerkennung wiederum mehr Geld für Therapieforschung bedeuten. Vom Staat finanzierte Präventionskampagnen könnten Spieler vor dem Absturz in die Sucht bewahren.

USK-Freigabe nach Abhängigkeitspotenzial

Was dem Otto-Normal-Zocker ins Haus steht, darauf gibt der Fachverband Medienabhängigkeit einen Ausblick: Zum einen empfiehlt der Verband, dass – anders als bisher – auch "Abhängigkeitspotenziale" beim Jugendschutz eine Rolle spielen sollten. Die USK solle bei ihrer Einstufung unter anderem berücksichtigen, ob die Spielzeit über hundert Stunden liege oder ob Micropayments oder ein Handelssystem im Spiel vorliegen. So könnten übliche USK-12-Titel demnächst erst ab 16 oder 18 Jahren freigegeben sein. Der Verband schlägt zudem einen "Beipackzettel" vor, der auf die Gefahren hinweisen soll.

Von all dem wären erwachsene Spieler zunächst kaum berührt, schließlich betrifft Sucht auch nur einen kleinen Teil der Spieler. Dafür droht dann das Klischee vom kontaktscheuen Gamer wiederaufzuleben: "Es ist bedauerlich und teilweise auch stigmatisierend, dass als einzige Variante der Internetsucht die Internet Gaming Disorder berücksichtigt wird", sagt te Wildt. Dies könne Stereotype fördern, allerdings glaubt er, dass viele Eltern heute nicht mehr die Meinung vertreten, Computerspiele seien grundsätzlich schlecht.

Sorge um false positives

Die größte Sorge dürfte sein, dass bei einer zu weit gefassten Definition manche Gamer zu Unrecht – als false positives – diagnostiziert werden. Das hätte insbesondere für jüngere Spieler dramatische Folgen und eine Überreaktion seitens Politik und Erziehungsberechtigter ist nicht auszuschließen.

Dass Computerspielsucht, ähnlich wie einst Glücksspielsucht, offiziell anerkannt wird, scheint momentan nur eine Frage der Zeit. Es bleibt zu hoffen, dass bei aller berechtigten Vor- und Fürsorge dabei eines nicht aus dem Blickfeld gerät: Videospiele und Glücksspiele sind nicht dasselbe. (Philipp Sickmann, WASD Nr. 12, 17.12.2017)