Illustration: Der Standard

Man ist erschüttert (ein besseres Wort bietet die deutsche Sprache leider nicht), wenn man wie ich schon im Jahr 2011 im STANDARD über den Skandal Wilhelminenberg schrieb: "Auch wenn der Blick zurück mit Gewissheit weitere Schrecklichkeiten offenbaren wird ... Verlorene Jahre kann man niemandem zurückgeben."

Die Erschütterung besteht darin, dass sich trotz Kommissionen, Untersuchungen und Opfervereinen wenig bis nichts geändert hat. Man dachte, mit der Publizierung der damals bekannten Missbrauchsvorfälle habe man zwar nicht alles aufgedeckt, aber erreicht, dass die übelsten Missstände sofort beseitigt werden. Im Großen und Ganzen schien das Problem unter Kontrolle – auch wenn nicht alle Vorkommnisse vollständig aufgeklärt waren und die Arbeit der eingesetzten Kommissionen nicht vollauf zufriedenstellend war; auch wenn die Betroffenen nicht in jenem Ausmaß Genugtuung erfuhren, wie das eigentlich zu erwarten gewesen wäre.

Ebenfalls im Jahr 2011 entschloss ich mich aufgrund der Reaktionen auf meine Beiträge im STANDARD und in der Presse dazu, die eigenen katholischen Internatserlebnisse mit Missbrauch in Form sexuell konnotierter Gewalt unter dem Titel Fromme Begierden zu veröffentlichen. Wiederum muss ich das Wort "erschütternd" bemühen, um die über mich hereinbrechende Flut von Anrufen, Mails und Briefen unzureichend zu beschreiben.

Traumata waren geblieben

Die Menschen, die sich bei mir zu Wort meldeten – das Wort "Opfer" vermeide ich meist wegen seiner stigmatisierenden Wirkung -, waren in gehobenem Lebensalter und den sie traumatisierenden Situationen längst entkommen. Nur die Traumata waren geblieben.

Da meldete sich bis heute alles: Leute, die anonyme Aussprache suchten; andere, die verzweifelt Rat und Hilfe bei mir einforderten (weil die öffentlichen Stellen noch immer nicht so funktionieren, wie sie sollten) – eine Hilfe, die ich mangels Fachwissen nicht leisten konnte. Es offenbarte sich mir das gesamte Elend einer – ich möchte sagen: missbrauchten – Generation, zumindest jener Teile dieser Generation, die Internate besuchten, unabhängig davon, welche Institution diese Anstalten betrieb.

Jenseits der Vorstellungskraft

Besonders erschreckend und schockierend war, was mir von Frauen erzählt wurde. Denn – mit der Ausnahme "Wilhelminenberg" – war beim Missbrauch in Internaten praktisch immer nur von männlichen Kindern und Jugendlichen die Rede. Doch unter denen, die mit mir Kontakt aufnahmen, waren die Frauen weitaus in der Überzahl, und sie waren noch immer nicht in der Lage, ihre Geschichten öffentlich zu erzählen. Insbesondere die Zahl jener, die in Mädcheninternaten von Klosterfrauen auf abscheulichste Weise (sexuell konnotiert) misshandelt worden waren, lag jenseits meiner Vorstellungskraft. Etwa mitten im tiefsten Winter stundenlanges Knien auf Holzscheiten, nackt und Rosenkranz betend bei offenem Fenster – das zählte noch zu den eher "harmloseren" Arten der Folter, die in manchen weiblich geführten Klosterinternaten üblich war.

Ob hier Nonnen eventuell eine durch selbst erfahrenen Missbrauch entglittene Sexualität auslebten, kann ich nicht beurteilen. Umso erfreulicher, wenn eine Frau wie Nicola Werdenigg jetzt das Schweigen gebrochen hat. Denn das, worum es hier geht, ist relevanter und hat eine ganz andere, wesentlich schrecklichere Dimension als die MeToo-Debatte (bei der alles Mögliche und Unmögliche vermischt wird).

Im oben zitierten STANDARD-Artikel schrieb ich auch: "Es muss endlich Schluss sein mit dem unkoordinierten Kommissionsunwesen ... eine einzige, bundesweite Kommission zum Thema Heim-'Erziehung' seit 1945 gehört her ... (ein) Kataster aller Internatseinrichtungen in Österreich nach 1945; Auflistung aller Personen, die dort tätig waren, zentrales Melderegister für Betroffene bzw. Zöglinge; Katalogisierung aller 'Erziehungs'-Methoden ... Erforschung der Ursachen und Folgen dieser Terrorherrschaft."

Nichts davon wurde verwirklicht oder von der Politik auch nur diskutiert. Hätte man das damals umgesetzt, hätten wir zumindest heute wohl keine Probleme mehr in diversen Ski-Internaten und geschlossenen Heimeinrichtungen.

So aber ist es kein Wunder, dass das unfröhliche Treiben munter weiterging. Zwar nicht mehr in jenem massenhaften Ausmaß wie einst, weil die Zahl der Heime drastisch zurückgegangen ist. Aber es zeigt sich: Dort, wo es sie noch immer gibt, wirken die einst von Irmtraud Karlsson in Verwaltete Kinder beschriebenen Mechanismen von "geschlossenen Institutionen" weiter. Wir produzieren noch immer Not, Elend und Leid, ohne das früher Geschehene bis zur letzten bitteren Konsequenz geklärt zu haben.

Finanzielle Trostpflaster

Die Folgen solcher Vorkommnisse sind in ihrer Vielfalt unüberschaubar und können sich auf alle Lebensbereiche erstrecken. So berichtet etwa die Kontinenzberaterin Kornelia Buchner-Jirka über ihre Beobachtung, dass inkontinente Menschen erstaunlich oft in Kindheit und Jugend missbraucht worden sind. Auch die finanziellen Trostpflaster der Kommissionen sind mehr als nur unbefriedigend.

Die Klasnic-Kommission, deren Namensgeberin nun für den Skiverband als Troubleshooterin ins Auge gefasst wurde, lieferte – so Betroffene – nur bescheidene Ergebnisse. Selbst kann ich nur berichten, dass ich mich mit meinem Buch (das sollte als Beschreibung der Vorgänge wohl genügen!) an die Klasnic-Runde wendete und nie eine Antwort erhalten habe.

Schwarze Pädagogik

Dass sich die auf uns zukommende schwarz-blaue Regierung dazu aufraffen wird, vernünftige Lösungen zu finden, darf bezweifelt werden. Die bewegt sich lieber in Richtung schwarzer Pädagogik. Ein Regierungspartner, dessen wichtigste Proponenten aus gewaltaffinen Burschenschaften kommen, wo es zum guten Ton gehört, sich mit scharfen Waffen die Fresse zu polieren, gibt wenig Anlass zur Hoffnung.

Während die Institutionen weiter versagen, sind noch immer unzählige Menschen auf der Suche nach der ihnen gestohlenen Zeit. Staatsakte im Parlament für Missbrauchsopfer dienen der Politik und kaschieren das Nichtstun. Den Betroffenen helfen sie nicht. Und um die sollte es doch gehen. Vielleicht endet die jetzt losgetretene Debatte ausnahmsweise nicht im Nirwana. (Michael Amon, 15.12.2017)