Nach der Angelobung wartet die EU: Schon heute, Dienstag, trifft Kurz Spitzen der EU-Institutionen.

Foto: Robert Newald

Niemand kann bestreiten, dass die FPÖ in den letzten Jahren ein eigenständiges außen- und europapolitisches Profil gezeigt hat. Sie flirtete wiederholt mit den "Öxit" und der Rückabwicklung der Eurozone, verbrüderte sich mit Le Pen und Wilders in der gemeinsamen Fraktion im Europäischen Parlament und unterstützte die Visegrád-Staaten in der Verweigerung der Aufnahme von Flüchtlingen. FP-Funktionäre schlossen ein Kooperationsabkommen mit der russischen Regierungspartei ab, kritisierten die EU-Sanktionen und engagierten sich für die Anerkennung der Krim-Annexion.

Während zahlreiche Abschnitte des neuen Regierungsprogramms freiheitliche Handschrift tragen, finden sich im außen- und europapolitischen Teil nur Spurenelemente davon. Dieser ist vielmehr vom Bekenntnis zur Europäischen Union geprägt und vermittelt den Eindruck, dass sich an der EU-Politik insgesamt nur wenig ändern wird. Das ist zum einen auf den Koalitionspartner zurückzuführen, für den die Zustimmung zur EU eine Voraussetzung für eine Regierung darstellte. Zum anderen hatte die FPÖ schon vorher ihre EU-kritische Rhetorik zurückgefahren, weil im von Brexit-Schock und von Trump geprägten Klima mit antieuropäischer Politik wenig Popularität gewonnen werden kann. Zum Pro-EU-"Paulus" hat sich die FPÖ wohl kaum gewandelt. Vielmehr ist zu erwarten, dass die alte Skepsis erneut zum Vorschein kommt, falls die Stimmung wieder kippen sollte.

Bei genauerer Betrachtung stellt sich dann auch das Bekenntnis der neuen Regierung zur Mitgestaltung Europas etwas halbherzig dar. Man will zwar ein "starkes" Europa, aber so besonders stark sollte es auch wieder nicht sein. Denn das Subsidiaritätsprinzip wird zum Leitsatz der österreichischen EU-Politik erhoben. Die EU soll in Zukunft weniger unternehmen als heute, das wenige aber besser machen. Überbordende Regelungen und Bürokratisierung sollen gestoppt werden.

Kaum Reformvorschläge

Lauter legitime Anliegen, doch ist bemerkenswert, dass in einer Zeit, in der Politiker von Macron bis Juncker substanzielle Reformvorschläge auf den Tisch legen, das Regierungsprogramm auf inhaltliche Aussagen zur Zukunft Europas von der Währungsunion bis zur Verteidigungspolitik fast völlig verzichtet. Das führt zu der Frage, wie sich diese Regierung in der Praxis der Europapolitik positionieren wird. Zumindest vier Bereiche zeichnen sich ab, in denen man in eine schwierige Verhandlungslage geraten könnte:

Evident ist dies in der Migrationsfrage, eine der wenigen EUPolitikbereiche, in dem die neue Regierung eine substanzielle Position vorlegt. Jede Form des illegalen Grenzübertritts soll gestoppt werden. Die Verteilung von Flüchtlingen wird abgelehnt, da diese durch hermetische Sicherung der Außengrenzen EU-Territorium gar nicht erreichen sollen. Solange dies nicht der Fall ist, wird Österreich Asyl und Migrationspolitik in der österreichischen Kompetenz behalten und durch Grenzkontrollen für Sicherheit sorgen.

Ein großer Teil der EU-Mitgliedsstaaten ist dagegen der Meinung, dass neben der Sicherung der Außengrenzen auch die innere Dimension der Migrationsproblematik weiterentwickelt werden muss (etwa durch Harmonisierung der Asylbedingungen, solidarische Lastenteilung, Entwicklung von Regeln für Migration etc.).

Es ist gut möglich, dass sich Österreich in diesem Punkt durchsetzen wird, da auch die Visegrád-Staaten ähnliche Positionen vertreten. Eine nachhaltige Asyl- und Migrationspolitik wird so aber nicht entstehen. Denn realistischerweise werden auch in Zukunft zahlreiche Menschen das EU-Gebiet erreichen. Ohne gemeinsame Lösungen für den Umgang mit ihnen werden die EU-Staaten weiterhin gegeneinander agieren, die Rückkehr zu einem funktionierenden Schengensystem wird unerreichbar bleiben.

Dynamik: Währungsunion

Der zweite Stresstest könnte bei der Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion zukommen. Macron hat hier Vorschläge vorgelegt, die auf eine höhere Solidarität der Euroländer abzielen, um die wirtschaftliche Konvergenz zu fördern und die Eurozone krisenfester zu machen. Merkel hat signalisiert, auf diese Anliegen einzugehen, wenn auch nicht in dem von Macron gewünschten Ausmaß. Frankreich und Deutschland wollen bis März 2018 gemeinsame Vorschläge zur WWU-Reform ausarbeiten, die voraussichtlich eine beträchtliche Dynamik auslösen werden. Zumindest der FPÖ, die die EU-Unterstützung Griechenlands vehement bekämpft und eine Zweiteilung der Eurozone gefordert hat, dürfte eine Weiterentwicklung der Währungsunion Schwierigkeiten bereiten.

Mit einer ähnlichen Problematik wird sich Österreich bei den Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzplan konfrontiert sehen. Angesichts des Wegfalls des britischen Beitrags ist mit einer bitteren Auseinandersetzung über die Höhe und die Priorisierung der zukünftigen Ausgaben zu rechnen. Die neue Bundesregierung hat wohl kaum zusätzliche Mittel für die EU eingeplant. Sie wird sich für die Minimierung des Nettobeitrags einsetzen, kann sich aber auch in diesem Bereich nur bedingt auf die Unterstützung durch Deutschland verlassen.

Die Entwicklung der EU-Verteidigungspolitik ist zuletzt in Schwung geraten. In erstaunlichem Kontrast dazu muten die verteidigungspolitischen Ausführungen des Regierungsprogramms einigermaßen "retro" an. Der Neutralität wurde seit den 1980er-Jahren in keinem Regierungsprogramm so inständig gehuldigt. Auch wird Österreich als "Drehscheibe zwischen Ost und West" bezeichnet (als wäre es nicht von Nato-Staaten umgeben), und es wird festgestellt, dass es zur Vermittlung zwischen dem Westen und Russland berufen ist.

Militärische EU-Zusammenarbeit

Die Spannung zwischen dieser österreichischen Traditionspolitik und der sicherheitspolitischen Realität in Europa könnte sich weiter verstärken. Dabei wird niemand Österreich zwingen, von seiner Neutralität abzurücken. Es könnte aber in diesem Bereich der militärischen EU-Zusammenarbeit zunehmend marginalisiert werden. Bundespräsident Klestil wollte Anfang der 1990er-Jahre die Neutralität in den "Tabernakel der Geschichte stellen". 25 Jahre später erscheint es wahrscheinlicher, dass Österreich die Mitwirkung in einem wesentlichen EU-Bereich der Neutralität opfert.

Dem Regierungsprogramm zufolge sind Subsidiarität, Neutralität und Migrationsbekämpfung die Leitmotive der EU-Politik. Ob dies für eine effektive und solidarische Mitwirkung an der europäischen Integration ausreicht? In diesem Licht betrachtet, ist der österreichische EU-Vorsitz im zweiten Halbjahr 2018 ein echter Glücksfall. Für die gesamte Regierung stellt er eine Art Intensivkurs für die EU-Arbeit dar, der zugleich auch einen Sozialisierungsschub mit sich bringen kann. Denn jeder will die Profilierungschancen nützen, und niemand will sich blamieren. Zu hoffen ist, dass die Bundesregierung aus dieser Bewährungsprobe europäischer herauskommt, als sie hineingegangen ist. (Stefan Lehne, 18.12.2017)