STANDARD: Wie viel rauchen Sie?

Robert Menasse: Immer nur eine.

STANDARD: Ein alter Witz!

Menasse: Ja, aber ich empfinde Ihre Frage auch als einen schlechten Witz. Dieses Getue ums Rauchen, die Hysterie: Was? Du rauchst noch? Wie viel rauchst du? Das finde ich schon ziemlich nervig. Umgekehrt nerve ich niemanden mit meinem Rauchen. Entweder rauche ich bei der Arbeit, da bin ich allein in meinem Zimmer, oder ich gehe in eines der letzten Rauchercafés, und da muss ja ein Nichtraucher nicht hineingehen.

STANDARD: Ich habe gelesen, dass Sie zwischendurch mithilfe einer E-Zigarette aufgehört hatten.

Ein Roman über die EU? Mit "Die Hauptstadt" hat Robert Menasse (63) vor wenigen Monaten einen vorgelegt. Dafür bekam er viel Applaus – und den Deutschen Buchpreis.

Der Anzug ist von Armani Collezioni, das Polo von Lacoste, die Brille ist eine Vintage Robert La Roche.
Foto: Rafaela Proell

Menasse: Nein, das ist ein Gerücht. Ich finde, entweder man raucht, oder man raucht nicht. Diese Rauchersatzdinger sind kindisch und unbefriedigend. Mir ist allerdings gerade auf meiner Lesereise durch Deutschland aufgefallen, dass ich dort, wo das Rauchverbot strenger ist, mehr rauche als zu Hause. Und dass es schädlicher ist.

STANDARD: Das müssen Sie erklären.

Menasse: Es ist ganz einfach: Wenn man extra hinausgehen muss, dann raucht man gleich mehrere. Dabei verkühlt man sich. In einem Wiener Kaffeehaus verkühle ich mich nie.

STANDARD: Sie verbringen viel Zeit in Kaffeehäusern. Ihr Stammcafé war das Sperl. Dort wurde ein Rauchverbot verhängt. Wo findet man Sie heute?

Menasse: Ich bin inzwischen in den zweiten Bezirk gezogen, ich gehe jetzt ins Café Einfahrt oder ins Engländer. Dort gibt es sowohl Raucher- als auch Nichtraucherräume.

STANDARD: Die neue Regierung hat das absolute Rauchverbot gekippt. Das dürfte Sie freuen.

Menasse: Ich verstehe, dass Menschen in einem Restaurant sitzen und essen wollen, in dem nicht geraucht wird. Aber es gibt nun einmal klassische Raucherorte wie Kaffeehäuser oder Bars. Deswegen finde ich die momentane Regelung vernünftig. Es stimmt, dass Rauchen eine Sucht ist, aber eine Sucht kann man nicht verbieten. Es genügt, wenn man dafür sorgt, dass immer weniger junge Menschen zu rauchen beginnen und abhängig werden. Aber Rauchen ist auch eine Kultur. Und eine alte Kultur sollte zumindest Reservate behalten dürfen. In der Hegelgasse gab es früher eine Trafik, die hatte ein Schild: "Tabaklieferant für alle bedeutenden lebenden Dichter – Noch kein Todesfall!" Gestorben ist die Trafik, die Dichter haben ein Nachleben. Das erste Land, das ein absolutes Rauchverbot eingeführt hat, war Irland. Bis dahin hatte Irland die meisten Literaturnobelpreisträger. Seither habe ich nichts mehr von der irischen Literatur gehört. Aber wie auch immer, ich brauche Zigaretten, zum Träumen und Sinnieren. Punkt. Anderes Thema!

STANDARD: Andere Vorhaben der neuen Regierung dürften Sie weniger freuen: Sie haben nach der Wahl der italienischen Tageszeitung "La Repubblica" ein Interview gegeben, in dem Sie sagten, Sie dächten darüber nach wegzuziehen, wenn sich Österreich den Visegrád-Staaten annähern sollte.

Menasse: Ich wurde falsch zitiert, ich habe das nachweislich nie gesagt. Gesagt habe ich: Selbst wenn wir jetzt eine Regierung bekommen, die alle Grenzen dichtmachen und unser Land einzäunen möchte, werde ich immer die europäische Freizügigkeit verteidigen, die es ermöglicht, auch woanders in Europa zu leben. Das hat eine Journalistin mit dem Satz zusammengefasst, dass ich auswandern möchte. Nein, hier ist meine Heimat, und ich lasse mir meine Heimat und auch den Begriff Heimat nicht so leicht nehmen.

STANDARD: Vor 17 Jahren klang das schärfer. Sie haben damals mit "Erklär mir Österreich" einen Essayband zur Wende veröffentlicht. Wie ist heute Ihre Diagnose?

Menasse: Die heutige Situation ist anders als im Jahr 2000. Wenn zwei Parteien, die bei einer Wahl gewonnen haben und von denen eine die stärkste Partei ist, eine Koalition bilden, dann ist das ein demokratischer Normalfall. Man kann nicht kritisieren, dass diese Koalition gebildet wird. Man muss aber schauen, was diese Regierung macht – und allenfalls das kritisieren. Im Jahr 2000 hat sich der Dritte zum Ersten gemacht, das kam geradezu einem Putsch gleich, wenngleich im Rahmen der systemischen Möglichkeiten. Das wurde damals zu Recht als legal, aber nicht legitim bezeichnet.

"Sinnliche Gewissheit", "Selige Zeiten, brüchige Welt" oder "Don Juan de La Mancha": Menasses Romane sind hintergründig konstruierte künstlerische Auseinandersetzungen mit der Zeitgeschichte.
Die Jacke ist von Marc O'Polo, das Hemd von J. L. Stifel &Sons.
Foto: Rafaela Proell

STANDARD: Damals richteten sich die Proteste in erster Linie gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ. Sie wird auch in den kommenden Jahren das Land mitregieren.

Menasse: Der Unterschied zwischen der Haider- und der Strache-FPÖ ist eklatant. Haider war ein politischer Abenteurer, Strache ist ein ideologisch gefestigter Politiker. Er ist rechts, auch wenn der Zeitgeist links ist, und er erntet, wenn der Zeitgeist auch rechts ist. Auf der einen Seite macht ihn das gefährlicher als Haider, weil er wirklich glaubt, was er sagt. Gleichzeitig ist Strache ebendeshalb auch berechenbarer. Dazu kommt noch etwas: Damals gab es noch keinen allgemeinen Rechtsruck. Die Situation ist heute also eine vollkommen andere. Die neue Regierung ist der politisch personifizierte Zeitgeist. Das ist ein Problem, aber kein Skandal. Es wird aber Anlässe für Kritik und Protest geben. Bedrückend ist, dass Rot und Grün geistlos am heutigen Zeitgeist mitgebastelt haben.

STANDARD: Als Schriftsteller beschreiben Sie Personen stark über das Äußerliche. Sind Sie ein guter Beobachter?

Menasse: Ich schlüpfe als Schriftsteller in die Seele von Figuren, aber ich beschreibe auch, wie sie ausschauen. Beim Figurenpersonal meines neuen Romans fiel mir auf, dass ein bestimmter Typus EU-Beamter ein bestimmtes Outfit bevorzugt. Die jungen Karrieristen kleiden sich anders als die älteren, von den Blockaden des Systems frustrierten Beamten. Karrierefrauen sehen fast gepanzert aus. Aber sie haben auch Gründe, sich in diesem Biotop zu panzern.

Der Mantel ist von Gabo, der Schal von Lochcarron of Scotland, die Handschuhe von Derby. Hut: privat.
Foto: Rafaela Proell

STANDARD: Ihr Roman "Die Hauptstadt" spielt in den Eingeweiden der EU. 2010 fuhren Sie das erste Mal nach Brüssel, um Einblicke in die Mechanismen der EU zu sammeln. Haben sich die Klischees, die Sie im Kopf hatten, bestätigt?

Menasse: Die EU wird als ein großes Abstraktum wahrgenommen, als ein erratisches Ding, das sozusagen kein Gesicht hat. Aber es ist doch ein menschengemachtes Projekt, noch dazu ein höchst sinnvolles, und alles Menschengemachte muss man erzählen können. Das war mein Anspruch.

STANDARD: Es dauerte sieben Jahre, bis Sie den Roman veröffentlichten, dazwischen haben Sie zwei Essaybände geschrieben. Wie schwierig war es, die Figuren zu finden?

Menasse: Mir war klar, dass es eine Vielfalt an Figuren geben muss, weil ja das Wesentliche des Systems darin besteht, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen, mit verschiedenen Mentalitäten und Sprachen zusammenarbeiten müssen. Ich wollte aber keinen Schlüsselroman schreiben, ich habe sie typisiert. Dabei musste ich allerdings aufpassen, dass durch die Typisierung die Figuren nicht abstrakt werden. Deshalb hat jede Figur eine Biografie, die eine konkrete Einzigartigkeit zeigt und zugleich tief in der europäischen Geschichte verwurzelt ist.

"Ich unterstütze den Föderalismus."

STANDARD: Die zentrale These Ihres Buchs lautet, dass das Übel darin besteht, dass wir uns nicht von den Nationalstaaten lösen können. Sie führen dagegen das Modell eines Europa der Regionen an. Aus österreichischer Perspektive erstaunt das: Viele Probleme hierzulande sind erst durch den ausufernden Föderalismus entstanden.

Menasse: Ich unterstütze den Föderalismus. Das Problem, das viele zu Recht mit dem Föderalismus in Österreich haben, besteht darin, dass die Kompetenzaufteilung zwischen den Ländern und dem Bund unsauber und widersprüchlich ist. Aber zum Europa der Regionen: Die Region stiftet die eigentliche Identität der Menschen. Man muss einem Bayern nicht erklären, dass er kein Preuße ist. Alle Regionen sind historisch gewachsene Kulturräume, die wesentlich älter und gefestigter sind als die Nationen. Nationale Identität ist eine Fiktion. Regionen bieten konkrete Identitätsangebote und sind überschaubare Räume, das erleichtert die politischen Partizipationsmöglichkeiten. Nationen neigen zu Sonderwegen und Egoismen, aber Regionen wissen, dass sie nur durch Austausch und Vernetzung überleben.

STANDARD: Wie würden Sie Ihren Identifikationsrahmen benennen? Sind Sie Wiener? Europäer? Als Österreicher werden Sie sich nach diesen Ausführungen kaum bezeichnen.

Menasse: Ich habe immer ein Problem gehabt, mich als Österreicher zu bezeichnen. Vor allem wenn ich mit der Selbstdarstellung dieses Landes konfrontiert war. Denken Sie allein an die Wollust, mit der sich Österreich selbst als Alpenrepublik bezeichnet. Ich bin Wiener, da gibt es keine Alpen, keine Lederhosen und Dirndln. Österreich ist eine Nation, die sich zur eigenen Nation erklärt hat, um zu begründen, dass sie keine Deutschen sind, also keine Schuldigen, damit die Alliierten abziehen. Der Trick hat funktioniert! Aber damit hat sich die österreichische Nationsidee auch schon erledigt.

Ob "Das Land ohne Eigenschaften" oder "Dummheit ist machbar": Seine Essays über Österreich brachten Menasse genauso den Ruf des Nestbeschmutzers wie den des visionären Querdenkers ein.

Anzug und Hemd sind von Great Lakes Garment Manufacturing Company, der Schal von Lochcarron of Scotland, die Uhr ist eine Rolex Oyster Perpetual.
Foto: Rafaela Proell

STANDARD: Heute wird Österreich als Nation kaum mehr infrage gestellt.

Menasse: Die österreichische Nation? Was soll das sein? Keine Definition von Nation, die wir aus der Politikwissenschaft kennen, trifft auf Österreich zu. Es ist keine Staatsnation, dazu ist der Nationsbegriff in Österreich viel zu völkisch aufgeladen. Es ist aber auch keine romantische Nation im Sinn einer Volksgemeinschaft mit gleicher Abstammung, Sprache, Religion und Bräuchen. Das ist ja eindeutig. Ist es eine Kulturnation? Weil man Fremdenverkehrswerbung mit toten Künstlern macht? Die lebenden werden verachtet. Mit dem Bewusstsein von Nationalisten zu Recht. Denn kein Künstler, der bei Sinnen ist, will nationale Kunst oder Nationalliteratur produzieren. Außer er heißt Odin.

Anzug: Armani Collezioni, Polo: Lacoste, Brille: Vintage Robert La Roche.
Foto: Rafaela Proell

STANDARD: Das Pendel geht aber Richtung Nationalisierung und nicht Regionalisierung. Oder sehen Sie einen Silberstreifen am Horizont?

Menasse: Ich war in den letzten Jahren sicher zu 30 Europa-Konferenzen eingeladen. Da wird vor großem Publikum heftig über nachnationale Demokratiemodelle oder über Verfassungsfragen einer europäischen Republik diskutiert. Das steht halt am nächsten Tag nicht in der Zeitung. Ich bedaure die Rechten. Ich frage mich nämlich, warum das Pendel, wenn es nach rechts ausgeschlagen hat, dort auf einmal wie fixiert stehen bleiben soll. Die Frage ist doch: Wenn die Rechten keine der großen Herausforderungen der Zeit in den Griff bekommen – und das werden sie nicht -, wie werden ihre Wähler reagieren? Werden sie dann wieder ein Stück nach links gehen, oder werden sie sagen: Diese nationalen Politiker waren nicht konsequent genug, wir brauchen radikalere Führer. Ich fürchte mich ja nicht so leicht, aber vor dieser Perspektive graut mir.

STANDARD: Ihre Tätigkeit als Schriftsteller ist eng verzahnt mit Ihrer Tätigkeit als politischer Essayist. Gehört das für Sie zusammen? Sie sind so etwas wie ein Prototyp des "engagierten Schriftstellers"?

Menasse: Also ich bin nicht so etwas wie ein Prototyp. Wir reden hier von einer langen und wichtigen Tradition. Als ich begonnen habe, mich mit Literatur zu beschäftigen, haben mich jene Autoren, die ihre Zeitgenossenschaft radikal reflektiert haben und auch Einfluss nehmen wollten auf den gesellschaftlichen Diskurs, mehr interessiert als Autoren, die so arbeiten, wie die Biene ihre Waben baut. Es war immer wieder von eminenter Bedeutung, dass es Schriftsteller wie Zola, Balzac, Victor Hugo oder Jean-Paul Sartre gab. Das waren Autoren, die für die Entwicklung der gesellschaftlichen Diskurse enorme Verdienste gehabt haben.

STANDARD: Haben Schriftsteller einen besonderen Zugang zur Realität?

Menasse: Ich hatte über 20 Jahre lang ein Zitat von Balzac über meinem Schreibtisch hängen: "Hinweis an angehende Romanciers: Erzähle so, dass deine Zeitgenossen sich erkennen und spätere uns verstehen." Das ist in Hinblick auf zeitgenössische Realität ein großer und toller Anspruch.

STANDARD: Nimmt man diesen Anspruch ernst, muss man selbst erst einmal verstehen, was los ist.

Menasse: Jeder Romancier versucht, etwas von großer Relevanz aus seiner Lebens-zeit zu erzählen. Herrscht Krieg, entstehen Kriegsromane und Antikriegsromane, fällt die Mauer, gibt es Mauerfall- und Wiedervereinigungsromane. Wenn man ein unpolitischer Mensch ist und man sich verliebt, oder aber unfähig zur Liebe und einsam ist, dann hält man das für ganz wichtig und schreibt einen Liebesroman. Wie auch immer, jeder Romancier erzählt etwas Relevantes aus seiner Lebenszeit. Als mir klar wurde, dass das Bedeutendste in meiner Lebenszeit das europäische Einigungsprojekt ist, wollte ich die Möglichkeit finden, davon in einem Roman zu erzählen.

Robert Menasses Rolli und Jacke sind von Marc O'Polo und die Hose von Great Lakes Garment Manufacturing Company.
Foto: Rafaela Proell

STANDARD: Nach dem Fall der Mauer musste man lange auf den Wenderoman warten. Ingo Schulze hat ihn dann geschrieben. Auch zur EU gibt es kaum fiktionale Versuche. Viele Schriftsteller lassen bewusst die Hände von allzu aktuellen Ereignissen.

Menasse: Sechs oder sieben Jahre nach der Wende ein guter Wenderoman – das ist doch nicht lange. Und was ist allzu aktuell am europäischen Einigungsprojekt? Das entwickelt sich seit über sechzig Jahren.

STANDARD: Warum hat bisher noch niemand einen Brüssel-Roman geschrieben, wie Sie es getan haben?

Menasse: Das weiß ich nicht.

STANDARD: Vielleicht weil der Referenzrahmen auch für Schriftsteller immer noch die Nation ist?

Menasse: Das mag sein. Aber nicht ganz. Man ist kein Nationalist, wenn man als Berliner einen Berlin-Roman schreibt oder als Pariser einen Roman, der in Paris spielt. In der Regel waren Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle nie Nationalisten und immer international vernetzt. Das war der Grund, warum sie oft als vaterlandslose Gesellen verfemt waren.

STANDARD: Warum, glauben Sie, rücken auch Schriftsteller zunehmend nach rechts?

Menasse: Tun sie das? Können Sie mir ein Beispiel geben? Ich weiß nur, dass die politische Linke, also was man so nannte, nach rechts taumelt. Die Sozialdemokraten, einstmals Internationalisten. Heute verteidigen sie zum Beispiel den nationalen Arbeitsmarkt, "für unsere Leut'" – was eigentlich ein Slogan der FPÖ ist. Da sitzen sie schon in der Nationalismusfalle. Dadurch haben sie aber kein Alleinstellungsmerkmal mehr gegen die Rechten und zerbröseln. Nationalismus nimmt man den Nationalisten ab und nicht den ehemaligen Internationalisten.

STANDARD: Hat sich die Rolle des Schriftstellers verändert? Bekommt er nicht mehr die Aufmerksamkeit, die er gewohnt war, und rückt daher näher zum Mainstream?

Menasse: Wären die Schriftsteller kompatibler mit dem Mainstream, wären sie in Österreich nicht so angefeindet. Das Problem ist ein anderes: Der Typus des politisch engagierten Autors wurde in den letzten Jahrzehnten – eigentlich bereits im Laufe des gesamten 20. Jahrhunderts – nachhaltig beschädigt. Zola war kein Unterstützer einer Partei: Politisches Engagement hieß politisches Engagement im Sinne eines Eintretens für Wahrheit und Anstand. Das hat sich durch die russische Revolution dahingehend verändert, dass Engagement bedeutete, sich parteipolitisch zu engagieren. Der engagierte war dann der sozialistische oder gar kommunistische Autor. Damit fing das Verhängnis an. Erst der Tod von Günter Grass war eine Zäsur.

STANDARD: Von Günter Grass?

Menasse: Er war der Letzte, der gebieterisch definierte, dass politisches Engagement die Unterstützung einer politischen Partei bedeute. In seinem Fall der Sozialdemokratie. Von dieser Geschichte erholt sich der Anspruch, ein engagierter Schriftsteller zu sein, nur langsam. Das merke ich auch an mir selbst.

STANDARD: Sie waren nie parteipolitisch engagiert, oder?

Menasse: Nein. Aber der Verdacht, dass ich bei einer bestimmten Partei bin, schlägt mir ununterbrochen entgegen. Man sagt abwechselnd, ich sei ein radikaler Grüner oder ein unverbesserlicher Sozi. Alles Unsinn!

STANDARD: Sie haben sich in den vergangenen zwei Tagen für dieses Magazin fotografieren lassen. Dabei wurde auch unterschiedliche Mode verwendet. Viele Ihrer Schriftstellerkollegen lehnen das grundsätzlich ab, da dies nicht dem Bild entspricht, das man sich von einem Autor macht. Hedonismus hat in intellektuellen Sphären – zumindest im deutschsprachigen Raum – nichts zu suchen. Sie sehen das offensichtlich anders, oder?

Wien ist sein Lebensmittelpunkt: Robert Menasses Vater ist die Fußballlegende Hans Menasse, seine Halbschwester die Schriftstellerin Eva Menasse.
Foto: Rafaela Proell

Menasse: Ich bin betrogen worden, es wurde mir nicht gesagt, dass es um Mode geht.

STANDARD: Es war auch kein Modeshooting.

Menasse: Das ist mir wichtig, dass das festgehalten wird. Da ich immer dasselbe anhabe, wurde mir gesagt, dass man beim Fotoshooting unterschiedliche Outfits verwenden wolle, um die Fotos interessanter zu gestalten. Das habe ich gerne angenommen, aus dem einfachen Grund, dass ich sehr schwer Sachen zum Anziehen finde, in denen ich mich wohlfühle. Wenn ich in ein Modehaus gehe, um einen Anzug zu kaufen, dann denke ich mir beim Anprobieren, ich schaue aus wie der Filialleiter einer Provinzsparkasse. Nichts gegen Filialleiter, aber das bin ich ja nicht! Dann gehe ich in ein anderes Geschäft und denke mir, ich brauche etwas Lässigeres, und kaufe eine Lederjacke. Zu Hause sagt mir meine Frau, ich schaue damit aus wie ein depressiver Lastwagenfahrer. Also trage ich die Lederjacke wieder zurück. Um es kurz zu machen: Ich habe mir gedacht, da gibt es Experten bei diesem sogenannten Shooting, und ich habe sie gebeten, mir Vorschläge zu machen, wie ich mich anziehen soll.

STANDARD: Und hat es funktioniert?

Menasse: Ja, ich habe für die nächsten drei Jahre genug Kleidung, weil ich alles gleich mit nach Hause genommen habe. Was ich auf diesen Fotos anhabe, das bin ich.

STANDARD: Woher kommt in Intellektuellenkreisen diese prinzipielle Skepsis gegenüber Mode?

Menasse: Ich sehe die nicht. Gerade Mode hat für viele Schriftstellerinnen große Bedeutung. Denken Sie nur an Elfriede Jelinek, für die Mode ein Statement ist in Hinblick auf ihr Selbstgefühl und ihr Verhältnis zur Gesellschaft. Oder an Elfriede Gerstl oder Elfriede Czurda. Bei den Männern ist das etwas weniger ausgeprägt. Aber in der Regel findet jeder irgendwann seinen Stil. So gesehen ist auch Franz Schuh ein Trendsetter. Wenn der Trend hinschauen würde.

STANDARD: Zurück zur neuen Regierung: Eines Ihrer großen Themen ist die Sozialpartnerschaft. Diese gerät durch die neue Regierung wahrscheinlich stark unter Druck.

Menasse: Das war auch unter Schüssel so. Schüssel war in dieser Hinsicht in der Zweiten Republik einmalig. Seine Haltung war: Wenn ich regiere, dann dulde ich keine Nebenregierung neben mir. Obwohl er eigentlich ein Kämmerer war.

STANDARD: Jetzt scheint es ans Eingemachte zu gehen. Wären Sie froh, wenn die Sozialpartnerschaft bald der Geschichte angehört? Sie traten immer für eine demokratische Normalität ein, in der es keine Nebenregierung gibt.

Menasse: Diese Normalität wird ja nicht hergestellt. Erstens haben sich die Sozialpartner mittlerweile in die Verfassung hineingeschrieben. Zweitens: Demokratiepolitische Kritik an der Sozialpartnerschaft bedeutet ja nicht, dass man die Kammern zerschlagen soll. Die Arbeiterkammer macht großartige und wichtige Arbeit, die sie nicht mehr machen könnte, wenn sie nicht alle Arbeitnehmer vertreten würde. Die Kritik bedeutet: Raus mit den Sozialpartnern aus dem Parlament! Das hat ja mit lebendigem Parlamentarismus nichts zu tun, wenn die Sozialpartner neben der Regierung und außerhalb des Parlaments ein Gesetz aushandeln und dann ins Parlament gehen, um es zu beschließen.

Den Hut hat Robert Menasse selbst zum Shooting mitgebracht.
Der Mantel ist von Gabo, die Hose von Great Lakes Garment Manufacturing Company und die Schuhe sind von Glein.
Foto: Rafaela Proell

STANDARD: Sie haben Ihre Kritik an der Sozialpartnerschaft bereits vor über zwei Jahrzehnten formuliert, mittlerweile scheint das Unbehagen an ihr Common Sense zu sein.

Menasse: Der Punkt ist, dass vor allem die FPÖ berechtigten Widerwillen gegen Verhältnisse aufgreift, aber mit ihren Vorschlägen gleichzeitig alles auf den Kopf stellt. Sie lassen ja die Sozialpartner im Parlament sitzen, aber es geht der selbsternannten Arbeitnehmerpartei darum, die Arbeiterkammer zu zerstören.

STANDARD: Eine andere zentrale Forderung der FPÖ ist "Mehr direkte Demokratie"! Wie halten Sie es damit?

Menasse: Direkte Demokratie hebelt die parlamentarische Demokratie aus. Wenn Volksabstimmungen verbindlich zu Gesetzen führen, dann gibt es keinen Interessensausgleich mehr und keine Kompromisse. Aber das ist das Wesen der Demokratie: der Kompromiss, und nicht Ja oder Nein., und dadurch die Entrechtung einer Minderheit. Und noch etwas: Wenn das Parlament ein Gesetz beschließt, das im Widerspruch zur Verfassung steht, kann der Verfassungsgerichtshof es aufheben – auch wenn der Herr Strache das Gesetz gerne hätte. Wenn aber der Herr Strache ein Referendum erzwingt und die Entscheidung hat Verfassungsrang, dann kann der Verfassungsgerichtshof dasselbe Gesetz nicht mehr aufheben, weil es bereits Teil der Verfassung ist.

STANDARD: Befürworter führen das funktionierende Model Schweiz an.

"Strache weiß nicht, wie die Schweizer direkte Demokratie funktioniert."

Menasse: Herr Strache weiß nicht, wie die Schweizer direkte Demokratie funktioniert. Er weiß nicht, welche Schritte notwendig sind, damit es überhaupt zu einem Referendum kommen kann. Er kennt auch die Geschichte der direkten Demokratie in der Schweiz nicht. Folgendes ist wichtig zu wissen: Die Möglichkeit des Volksentscheides in der Schweiz wurde geschaffen, damit die Wähler die Möglichkeit haben, die Politik der Regierung, in der alle Parteien paritätisch vertreten sind, die also keine Opposition hat, zu korrigieren. Es war nie vorgesehen, dass Parteien, die in der Regierung sitzen, ein Referendum initiieren. Die Blocher-Partei sitzt in der Regierung und hat die direkte Demokratie gekapert, die eigentlich die Funktion von Opposition haben sollte, daher wächst in der Schweiz die Kritik daran und die Forderung, dieses Instrument zu beschränken.

STANDARD: Während Strache das Instrument für Österreich entdeckt.

Menasse: Genau. Nach dem Blocher-Prinzip. Nicht nach dem eigentlichen Sinn! Wenn die FPÖ ein Gesetz will, hat sie im Parlament oder jetzt in der Regierung jede Möglichkeit, einen Gesetzesvorschlag einzubringen. Ein Referendum, bei dem eine Partei, die im Parlament sitzt, mit ihrer Infrastruktur außerparlamentarisch die Massen mobilisiert, um am Parlament vorbei Gesetze zu erzwingen, ist Missbrauch der direkten Demokratie und Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie. Mit anderen Worten: Dieses Konzept ist radikal antidemokratisch.

STANDARD: Sie haben Haider einen politischen Abenteurer und Strache einen Ideologen genannt. Sehen Sie Sebastian Kurz eher in der Nähe von Haider oder von Strache?

Menasse: Kurz ist als blendender Populist die Wiedergeburt des politisch toten KHG, Strache ein Ideologe mit dem Talent zum Volkstribun, Schüssel war ein Populist, der nicht populär wurde, und Haider ein politischer Abenteurer. Ich bin müde, ich mache sonst solche Kurzfassungen nicht.

STANDARD: Vor welchem Typus fürchten Sie sich am meisten?

Menasse: Vor keinem. Man muss sich mit jedem auseinandersetzen und versuchen, dort, wo es kritisch wird, die besseren Argumente zu haben. Angst ist kein Instrument. (Stephan Hilpold, RONDO, 21.12.2017)

Weiterlesen:

Kopf des Tages, 9.10.2017: Robert Menasse, Chronist des Projekts Europa