Prophezeiungen vom Ende der Demokratie machen die Runde. Ihre Verkünder stellen dabei zwei bemerkenswerte Annahmen auf: Zum einen scheinen sie davon auszugehen, dass die Möglichkeiten der Demokratie heute bereits realisiert sind. Zum anderen fürchten sie den Untergang der Demokratie als quasi-natürliche Notwendigkeit oder Konsequenz – Stichwort Klimawandel. Oft reicht es, den Begriff bloß in die Runde zu werfen, um ein beklemmendes Kopfnicken für die Untergangsthese zu ernten. Für die Beherrschung des Klimawandels müsse zuweilen die Demokratie geopfert werden.

Prophezeiungen neigen zur Selbsterfüllung, weshalb es höchste Zeit für eine Analyse ist – und wie immer hilft ein Blick in die Wissenschaft. Im letzten Blogbeitrag "Klimaschützer in der CO2-Falle" habe ich angemerkt, dass Wissenschafter mit Hilfe von Klimamodellen und deren Produkten, den Klimasimulationen, die Zukunft deuten und die Weichen der Klimapolitik später mit sogenannten Integrated Assessment Models (IAMs) stellen konnten. In diesem Beitrag möchte ich diesen kryptischen Satz dekodieren. Was sind Klimamodelle und IAMs? Was zeigen diese Werkzeuge der modernen Klimawissenschaft, auf die sich die internationale Klimapolitik in ihren Zielen und Handlungen beruft, und wie können wir die gewonnenen Erkenntnisse interpretieren?

Sag mir, was die Zukunft bringt!
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Klimamodelle sind Erdsystemmodelle

Klimamodelle sind eigentlich Erdsystemmodelle, da in ihnen die verschiedenen Sphären (Atmosphäre, Hydrosphäre, Kryosphäre, Biosphäre und Landoberflächen) gekoppelt werden. Den Namen Klimamodell behalten sie vor allem im populärwissenschaftlichen Diskurs. Einerseits, weil die Atmosphäre die erste Komponente dieser Modelle war und das Klima als der Durchschnitt atmosphärischer Variablen wie der Temperatur berechnet wird, andererseits, weil der Klimabegriff in der westlichen Welt immer schon kulturell aufgeladen war. Heute würde der Klimawandel das Ende der Demokratie einläuten.

Mit Erdsystemmodellen lässt sich die Temperaturentwicklung der Vergangenheit nachzeichnen und der Einfluss des atmosphärischen CO2-Gehalts auf zukünftige Erddurchschittstemperaturen feststellen. Computermodellierer würden dabei aber nie von richtigen oder falschen Modellen sprechen. Sie sprechen von der Fähigkeit unterschiedlicher Modelle bestimmte Beobachtungen nachzuzeichnen, da nicht genau gesagt werden kann, warum manche Modelle mit Messdaten, wie die Temperaturverläufe des 20. Jahrhunderts, besser übereinstimmen als andere. Zudem sind sie statistische Modelle, die aufgrund des chaotischen Systems, das sie nachbilden, mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten müssen. Das Ergebnis der Erdsystemmodellierung ist seit vielen Jahrzehnten der Forschung nahezu unverändert geblieben: Bei einer Verdoppelung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre berechnen die Modelle bis zum Jahr 2100 eine Erderwärmung von circa 1,5 bis 4,5 Grad, die sogenannte CO2-Sensitivität des Erdsystems. Innerhalb dieser Bandbreite ergeben sich für verschiedene Temperaturen unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten. 

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In schwarz ist die gemessene Temperatur eingezeichnet. Grau stellt die modellierte historische Temperatur nach, während die bunten Linien die zukünftige Temperatur vorhersagen.

Klimasimulationen deuten

Wissenschafter stehen vor einem Rätsel, wie Erdsystemmodelle erkenntnistheoretisch zu verankern sind. Sie sind weder richtig noch falsch. Selbst ihre Konstrukteure, die Modellierer, sind sich darüber uneinig und sprechen lieber von ihrem Vertrauen in gewisse Modelle, genaue Vorhersagen treffen zu können. Noch "unwissenschaftlicher" klingt die Interpretation ihrer Produkte, den bunten Klimasimulationen. Der Wissenschaftsphilosoph Jerome Ravetz bezeichnet sie als Metaphern einer möglichen Zukunft und hatte wahrscheinlich das Bild vom fiebrigen Patienten Erde im Kopf, dem mit jedem Jahrzehnt heißer wird. Der Patient sind natürlich wir selbst. 

Die wohl bekannteste Interpretation ist jene der "Klimakatastrophe", die dem komplexen Phänomen Klimawandel jedoch nicht gerecht werden kann. Sozialpsychologische Studien zeigen, dass die darauf aufbauende alarmistische Kommunikation demotivierend wirkt.

Ravetz' Kollegin, die bekannte Klimaaktivistin Noami Oreskes, vergleicht Modelle lieber mit Gedichten. Wir lesen in Modellen Wahrheiten und glauben, darin Gesetzmäßigkeiten erkennen zu können. Den Versuch einer Interpretation der Klimaprognosen findet man auch im literarische Genre des Climate Fiction, kurz Cli-Fi. Die Grande Dame dieses Genres ist die bekannte Autorin Margaret Atwood.

Klimasimulationen: Wie sollen wir diese wissenschaftlichen Kunstwerke interpretieren?
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IAMs und die Klimaökonomie

Vielen sind Erdsystemmodelle und Cli-Fi nicht konkret genug. Laut den Vereinten Nationen benötigt die internationale Klimapolitik tools – Werkzeuge – for policymaking, wie es im Jargon heißt, die sie für ihre Entscheidungen zu Rate ziehen möge. Damit Erdsystemmodelle diese Funktion erfüllen können, werden sie mit Modellen der quantitativen Sozialwissenschaften gekoppelt. Zusammen bilden sie ein Integrated Assessment Model, in dem Naturwissenschaft auf Sozialwissenschaft trifft: Während die Natur im Erdsystemmodell auf eine globale Durchschnittstemperatur reduziert wird, werden Zusammenhänge auf sozialwissenschaftlicher Seite des IAM in erster Linie als ökonomische und internationale Beziehungen dargestellt. Damit können die Auswirkungen verschiedener politischer Entscheidungen, allen voran Investitionen in erneuerbare und fossile Energieträger, auf die Weltdurchschnittstemperatur simuliert werden. Mit IAMs wird internationale Klimapolitik gemacht.

Im Bereich der Ökonomik berechnen IAMs, wie sich ausgewählte Erddurchschnittstemperaturen aus dem Erdsystemmodell auf das Bruttoglobalprodukt aus dem sozialwissenschaftlichen Modell auswirken und umgekehrt. So können verschiedenen Szenarien durchgespielt und Entscheidungen wie Investitionen in bestimmte Energieträger auf ein optimales Verhältnis zwischen "Klima" und Wohlfahrt abgeklopft werden. Mit anderen Worten: Das Verhältnis zwischen Bruttoglobalprodukt und der Erddurchschnittstemperatur wird optimiert.

Um bestimmen zu können, wann welche Entscheidungen am besten umzusetzen sind – wann ist der Umstieg auf Erneuerbare kosteneffektiv? –, müssen Annahmen zur Entwicklung des Bruttoglobalprodukts getroffen werden. So wird angenommen, dass zukünftige Generationen reicher sein werden als vergangene, weshalb ihnen der Umstieg auf Erneuerbare billiger kommen würde als uns. Wir dürfen diesen Generationen also heute Ressourcen wegnehmen, um im Sinne eines Bruttoglobalprodukts Gerechtigkeit zwischen den Generationen herzustellen. Die Höhe dieses discounting – die Abzinsung unserer Kinder – ist häufiger Streitpunkt unter Ökonomen: Wieviel dürfen wir ihnen heute wegnehmen.

Wenn Sie versuchen sich vorzustellen, dass alle Generationen, die jemals auf der Erde existiert haben werden, zur gleichen Zeit lebten, dann erkennen Sie die Abzinsung unserer Kinder vermutlich als unmoralisch und falsch. Auch die Klimakostenoptimierung und ihre effiziente Kostenverteilung ist fragwürdig, da es bei Optimierung und Effizienz in erster Linie um den Nutzen und nicht um die Ethik der Handlungen, aus denen der Nutzen entsteht, geht. Ist Klimapolitik ohne Ethik überhaupt möglich? Zudem können etwaige durch Umweltschäden entstandene Reparaturkosten das Bruttoglobalprodukt sogar wachsen lassen.

Tragödie des Allgemeinguts

Ähnlich strittige Annahmen fließen in jenen Teil des IAMs ein, der internationale Politik simuliert. Hier wird Klimapolitik von Spieltheoretikern als tragedy of the commons – die Tragödie des Allgemeinguts, ein Aneignungswettkampf, in dem jeder gegen jeden antritt, um die meisten Ressoucen für sich beanspruchen zu können – verstanden, was dem tatsächlichen Verhalten von Staaten in Klimaverhandlungen nur selten entspricht. Akteure handeln nicht immer in Konkurrenz zueinander, sie suchen sogar die Kooperation, wie im Falle Chinas und der EU in der Klimapolitik.

Dass IAMs trotzdem den Anschein von Verlässlichkeit haben, liegt weniger an der Übereinstimmung mit der Realität, als daran, dass die Vorhersagen, die sie liefern, den Charakter von selbsterfüllenden Prophezeiungen haben. Der Input bestimmt in einem unbekannten Maß den Output. Würde mit Verhandlungs- oder Kooperationsmodellen statt besagtem Konkurrenzmodell experimentiert werden, hätten Politiker wohl andere Handlungsempfehlungen dieser tools bekommen. Das gilt auch für andere Parameter.

Gegner der Pariser Klimakonferenz setzen auf eindeutige Symbolik.
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No surprises – nur keine Überraschungen

Richtig problematisch wird es, wenn das Unerwartete eintritt. Weder Erdsystemmodelle noch IAMs können Überraschungen miteinbeziehen. Nicht nur US-Präsident Donald Trump, der mit Vorliebe die Pläne der führenden Klimamanager durchkreuzt, auch Berlins Atomausstieg nach dem Unglück von Fukushima war nicht vorhersehbar. Zudem ist das Erdsystem genauso für Überraschungen gut. Klimaschwankungen konnten in der Vergangenheit auch ohne menschliches Zutun in kürzester Zeit äußerst unerwartet und markant ausfallen, weshalb Paläoklimatologen in der wissenschaftlichen Literatur von hiccups sprechen – als hätte die Erde Schluckauf.

IAMs haben es also in sich, oder besser, die Annahmen, die in diese IAMs einfließen, haben es in sich: So wird davon ausgegangen, dass der Mensch gezielt auf das Erdsystem Einfluss nehmen kann. In der praktischen Modellanwendung werden die zu bestimmenden Variablen nämlich eher auf Seiten des Erdsystems, als auf Seiten des menschlichen Verhaltens gesucht. Gewisse Annahmen, Verhaltensmuster und Wertvorstellungen (Abzinsung, Optimierung, Konkurrenz) werden sogar als globale Konstanten betrachtet. Zudem schließen diese Modelle Überraschungen aus, sodass der Eindruck entsteht, die Temperaturentwicklung müsse linear erfolgen. Der Planet als Thermostat ist eine geläufige Metapher dieser Denkschule.

Dass Unsicherheiten in den Modellen besonders hervorgehoben werden, wenn sie der Öffentlichkeit präsentiert werden, bleibt ein schwacher Trost. Politiker wollen in der Regel keine Wissenschafter, die ihnen Unsicherheiten bieten – sie wollen tools for policymaking; sie sind vom ihrem Nimbus der Objektivität angezogen.

Mit Fukushima hatte niemand gerechnet.
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Zahlen schenken Vertrauen

Wenn Klimasimulationen am besten als Metaphern verstanden und wie Gedichte interpretiert werden können, was können wir in IAMs lesen? In IAMs erkennen wir ein Verlangen nach Stabilität, Sicherheit, Vorhersehbarkeit und Kontrolle, das sich etwa im Zwei-Grad-Ziel ausdrückt. Das Vertrauen in die eigene Kontrollmacht basiert dabei auf der Idee des Anthropozäns, des Zeitalter des Menschen: Dass wir selbst unbewusst eine Naturgewalt wurden, bedeutet jedoch noch lange nicht, dass wir Kontrolle über das Erdsystem erlangen können.

Der Grund, warum etwa das Kyoto-Protokoll rechnerisch gerade noch als Erfolg zu verbuchen ist, liegt nicht in der Klimapolitik. Dieser Erfolg ist auf die schwer vorhersehbare Finanzkrise 2008 zurückzuführen – weil mit der schrumpfenden Wirtschaft auch die Emissionen zurückgingen. Darüber hinaus hat uns die unkritische Interpretation moderner Erdsystemwissenschaften glauben lassen, dass wir an einem globalen Thermostat zwischen 1,5 und 4,5 Grad drehen könnten. Doch die Welt ist nur in unserer Vorstellung kleiner – das globale Dorf – und kontrollierbar geworden, etwa durch die 24/7-Berichterstattung aus allen Kontinenten. Sie ist nur am Rechenblatt beherrschbar. Zahlen schenken Vertrauen.

Die Fragen der IAMs

Die Alternative zur Hybris, der Selbstüberschätzung, ist die Heuristik. Sie ist die Kunst, mit unvollständigem Wissen zu praktikablen Lösungen zu kommen. Unser Wissen zum Erdsystem ist immer begrenzt – Temperaturveränderungen erfolgten global nur selten linear – und keiner kann sagen, welche politischen Überraschungen bevorstehen. Veränderung ist Normalität. Jeder Gärtner weiß, dass nicht einmal im Kleinen die Natur immer gehorcht, und dass er bestimmte Maßnahmen treffen kann und sich darauf aber besser nicht verlässt.

Wäre es angesichts dieser Unsicherheiten nicht intelligenter, sich an die physischen Gegebenheiten anzupassen und die moralischen, ökonomischen und politischen Lehren aus den IAMs zu ziehen: Ist ein in Bezug auf kaum kalkulierbare ökologische Kosten optimiertes Bruttoglobalprodukt erstrebenswert? Ist es gerecht, zukünftigen Generationen mit dem Vorwand, kosteneffektiv zu handeln, Ressourcen wegzunehmen? Wollen wir in grundlegenden Entscheidungen in Konkurrenz zueinander handeln? Und geht es beim Klimawandel wirklich nur um Energiepolitik und CO2? Diese und viele weitere Fragen stellen wir uns über die IAMs. 

"Unpolitische" Klimapolitik

Über diese Fragen wurde freilich nie abgestimmt. Und doch hat die internationale Klimapolitik über Handlungen und Ziele entschieden, die sie sich von IAMs als objektiv bestätigen lässt. So konnten grundsätzliche politische Fragestellungen und Herausforderungen auf ein technokratisches CO2-Managementproblem reduziert werden, das den errechneten Nutzen der Handlungen, die Emissionsreduktion, über deren Ethik stellt. Wir sind angehalten zu glauben, dass ein E-SUV von Natur aus moralisch anders zu bewerten sei als ein benzinbetriebenes SUV.

Über Klimawissenschaft wird viel diskutiert, doch von IAMs, den "Kristallkugeln" der Politik, hört man im öffentlichen Diskurs nichts. Dabei sollte unsere Aufmerksamkeit ihnen beziehungsweise den Fragen gelten, die sie aufwerfen. Zu diesen Fragen haben wir alle eine Meinung. Wegen der tiefsitzenden Angst vor der Klimakatastrophe und gefesselt von der 24/7-Katastrophenberichterstattung, glauben wir, dass für die demokratische Aufarbeitung dieser Fragen keine Zeit bliebe. So wird die These vom Untergang der Demokratie zur selbsterfüllenden Prophezeiung und die "unpolitische" internationale Klimapolitik erhält breite Zustimmung. Die Aufhebung demokratischer Ordnung sei der zu bezahlende Kollateralschaden.

Was tun?

Auf Seiten der Wissenschaft liegt die Lösung auf der Hand: IAMs sind politische Modelle und sollten im Sinne des Citizen Science, der Demokratisierung von Wissenschaft, zur Bürgerbeteiligung geöffnet werden, um zu verhindern, dass die Annahmen einer Handvoll Experten die Handlungen und Ziele der internationalen Klimapolitik vorgeben. Dann wird sich sehr schnell zeigen, dass der Klimawandel grundsätzlich eine demokratiepolitische Erweiterung erfordert und nicht auf ein CO2-Managementproblem reduziert werden kann. Die Bürgerbeteiligung wird klar machen, dass es vordergründig ums Klima und um CO2 geht. Es geht um die conditio humana, um uns. Was wollen wir auf diesem Planeten, was sind unsere Ziele? Wie erreichen wir sie? Was ist ein gelingendes Leben? Wie handeln wir richtig? Zur Beantwortung dieser Fragen ist der Ausbau demokratischer Ordnung essentiell. (Mathis Hampel, 3.1.2018)

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