Wer Franz und Elisabeth Kitzler im Winter besuchen möchte, muss sich gut vorbereiten. Und zwar für die Anfahrt, denn um zu ihrem Haus zu kommen, müssen Besucher erst eine steile Straße bezwingen. Bei Neuschnee keine einfache Angelegenheit. "Es schneit gerade ziemlich stark, da nehmt ihr besser den anderen Weg über Rindlberg", empfiehlt Kitzler am Telefon. Aber auch auf der Ausweichstrecke ist nicht gestreut, der nasse Schnee lässt die Autoreifen schwimmen.

Mit ausreichend Schwung klappt es dann doch: angekommen im kleinen Ort Reichenau am Freiwald im westlichen Waldviertel – mit 25 Minuten Verspätung. Der Hausherr steht schon vor der Tür mit seinen Hausschuhen im Schnee und empfängt den Besuch. In der Stube wartet seine Frau Elisabeth, mit der er seit 60 Jahren verheiratet ist.

Einst war Kitzler hier Bürgermeister, damals als Reichenau – sechs Kilometer Luftlinie von der tschechischen Grenze entfernt – noch eine eigene Gemeinde war. "300 Menschen haben hier früher gelebt, jetzt sind es nicht einmal mehr 100." 1971 wurde der Ort daher eingemeindet und gehört seither zum vier Kilometer entfernten Bad Großpertholz. Auch Pertholz, wie der Ort hier genannt wird, ist es ähnlich ergangen: 1869 hatte die Gemeinde 3.009 Einwohner, 2017 waren es nur noch 1.373. Alleine in den letzten zehn Jahren ist die Bevölkerungszahl um 11,7 Prozent zurückgegangen.

Franz und Elisabeth Kitzler leben in Reichenau am Freiwald und sind seit 60 Jahren verheiratet.
Fotos: Christian Fischer

"Die Jungen werden immer weniger, die Alten sterben aus", sagt Kitzler. Früher habe es in jedem Ort in der Gegend eine Schule gegeben, heute läuft der Betrieb der Volksschule nur gemeinsam mit einem Nachbarort und "die Neue Mittelschule zittert auch schon", sagt Kitzler, der 1967 den Wintersportverein seines Heimatortes gegründet hat und vor allem bedauert, dass den Vereinen nach und nach der Nachwuchs fehlt.

Dass die jungen Menschen wegziehen, dafür haben hier dennoch alle Verständnis. "Was sollen sie denn auch tun?", fragt Franz Kitzlers gleichnamiger Sohn, der direkt in Bad Großpertholz lebt. Arbeitsplätze gebe es in der Region einfach zu wenige und so müsste man sich entscheiden: Entweder hier leben und jeden Tag pendeln – etwa 45 Minuten sind es mit dem Auto nach Linz. Oder gleich umziehen. Viele entscheiden sich für Letzteres.

Von 400 auf sechs

Früher war das anders, erzählt Franz Kitzler Senior. Die Region habe von Land- und vor allem von Forstwirtschaft gelebt. Kitzler selbst hat bis zur Schließung des Betriebs 1978 in einem Sägewerk in der Nähe gearbeitet. Er erinnert sich an eine Weihnachtsfeier der örtlichen Forste, zu der 1952 mehr als 400 Mitarbeiter eingeladen waren. "Mit der Modernisierung sind es immer weniger geworden, das Holz schneidet jetzt die Maschine", sagt er. Im ganzen, etwa 4.800 Hektar großen Forst arbeiten heute nur noch sechs Holzarbeiter.

Rund um Pertholz und im Ortszentrum selbst stehen Wohnhäuser und Geschäftslokale leer.
Fotos: Christian Fischer

Ganze Holzhauerortschaften habe es damals gegeben, "die wurden alle zugesperrt", erzählt Kitzler. Tatsächlich liegen rund um Bad Großpertholz Orte wie Christinaberg, Hirschenstein und Ehrenreichsthal, die allesamt unbewohnt sind. Nur einzelne Gebäude und Reste alter Grundmauern weisen darauf hin, dass hier einmal Menschen gelebt haben.

Wie ausgestorben – so fühlen sich manche Tage auch im Zentrum von Pertholz an, erzählt die energische Wirtin Helga Bauer, die gemeinsam mit ihrer Familie eine Fleischerei und das Gasthaus Nordwaldhof führt, in dem auch die Kitzlers regelmäßig einkehren. "Da draußen ist es an manchen Tagen ganz ruhig", sagt sie, während sie mit einer Schürze bekleidet an einem Tisch in der Gaststube sitzt.

Viele Wohnhäuser im Zentrum stehen leer oder sind nur am Wochenende bewohnt, viele Geschäfte haben über die Jahre zugesperrt, erinnern sich die Kitzlers, zuletzt die Außenstelle der Sparkasse. Im Schaufenster hängt ein Plakat mit dem Hinweis: "Wir sind übersiedelt." Franz Kitzler sagt: "Die Raiffeisenbank ist nur noch stundenweise besetzt, die Post haben sie uns ganz genommen." Eine Postpartner gibt es noch.

Wirtin Helga Bauer erzählt, dass viele Häuser gar nicht oder nur am Wochenende bewohnt sind.
Fotos: Christian Fischer

Wie es einem kleiner werdenden Ort geht, weiß auch Raumplanerin Gerlind Weber, die sich seit zehn Jahren mit dem Phänomen der Schrumpfung beschäftigt und auch im Waldviertel schon geforscht hat. "Weil es oft ein moderates Siedlungswachstum gibt, werden Niedergangserscheinungen, etwa auch das Ende der Nahversorgung, nicht wahrgenommen. Sie treten oft sehr spät auf, irgendwann ist dann der Gebäudeleerstand nicht mehr zu übersehen", erklärt Weber. In vielen Gemeinden beherrsche man die Entwicklung auf der grünen Wiese perfekt, verfüge aber nicht über das Know-how, einen Ortskern wieder auf die Beine zu stellen.

Und dennoch: Was man zum Leben braucht, bekommt man im Ort, sagt Franz Kitzler jun. über Pertholz. Das letzte Kaufhaus des Ortes führt die wichtigsten Lebensmittel und "besorgt alles, was benötigt wird – auch mal Bettwäsche." Die Bäckerei liefert in die umliegenden Orte und bringt auf Bestellung auch Milch, Butter und andere Produkte mit. Lediglich die Tankstelle hat schon vor langer Zeit zugesperrt, für Treibstoff müssen die Bewohner deshalb in die nächstgrößere Stadt – nach Weitra – fahren. "Dann kaufen viele natürlich auch gleich dort ein", sagt Franz Kitzler.

Vor allem in puncto Mobilität geht es darum, sich zu organisieren, weiß Wirtin Helga Bauer. "Die Busverbindungen sind nicht ausreichend. Viele, vor allem ältere Leute, wissen daher, wann die Nachbarn in den Ort fahren, oder der Mann, der für Essen auf Rädern ausliefert, unterwegs ist, und fahren dort mit." Bauers Tochter Katharina geht in Krems in die Schule, sie fährt sonntagabends meist mit Wirtshausgästen mit, die sowieso nach Wien unterwegs sind. "Und wenn wir am Wochenende in die Disco fahren, wechseln sich die Mütter ab mit dem Taxispielen", sagt Katharina Bauer.

Über die Jahre sind die Geschäfte in Bad Großpertholz immer weniger geworden. Für Gerlind Weber ist die Gestaltung rückläufiger Entwicklungen die neue Aufgabe der Raumordnung.
Fotos: Christian Fischer

Zumindest am Wochenende ist auch in Pertholz was los. "Das Leben startet am Freitagmittag und hört am Sonntagabend wieder auf", sagt Franz Kitzler jun. und meint damit, dass man während der Woche – "abgesehen vom Pensionistenstammtisch" kaum Menschen auf der Straße sieht. Am Wochenende hingegen sind die drei Wirtshäuser voll.

Die mangelnde Verkehrsanbindung ist auch sonntags am Stammtisch im Gasthaus Hahn-Buam-Hof Thema. Am Tisch vor dem Kachelofen wird gelacht, diskutiert, gesungen und getrunken. Zwei der Männer brennen in ihrer Freizeit Schnaps und bringen ihn wöchentlich zum Frühschoppen mit. "Der Wirt ist einverstanden, solange wir bei ihm Wein und Bier bestellen", erklärt einer. Dass das Geschäft läuft, dafür sorgt die Wirtin selbst. Regelmäßig kommt sie zum Tisch und fragt: "Sind meine Männer eh zufrieden?"

Etwas aus sich machen

"Wir brauchen eine zeitgemäße Infrastruktur, nur so können Betriebe überleben", fordert einer in der Runde. Enttäuscht ist man von der Politik: "Erwin Pröll hat einmal gesagt, das Waldviertel sei ihm zu wertvoll für eine Autobahn – das ist kurzsichtig", heißt es. Man habe der Region nie die Chance gegeben, etwas aus sich zu machen. Dass sich daran nichts ändern wird, glaubt Franz Kitzler jun.: "Man muss hier oft große Umwege fahren, weil die Straßen in einem schlechten Zustand sind. Da gibt es Aufholbedarf, aber das wird jetzt auch nicht mehr passieren, wo immer weniger Menschen hier wohnen. Und dass wir wieder mehr werden, ist vollkommen illusorisch."

Die Wirtsleute des Hahn-Buam-Hofs veranstalten jeden Sonntag einen Tanznachmittag.
Fotos: Christian Fischer

Straßen und Gebäude neu zu bauen ist in ländlichen Regionen meist die Antwort auf Schrumpfung, weiß Raumplanerin Weber. "Auf rückläufige Entwicklungen wird stets mit Wachstum reagiert. Entscheidungsträger haben andernfalls Angst, als Versager wahrgenommen zu werden, und sind auf Wachsen konditioniert", sagt sie. Das helfe, so hoffen sie, der Wirtschaft auf die Sprünge.

Tragende Säule der Pertholzer Wirtschaft ist das Kurhotel Moorbad, das auf Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates spezialisiert ist. 60 Mitarbeiter sind im Betrieb beschäftigt, sagt Bürgermeister Klaus Tannhäuser – der selbst dort arbeitet. Es habe in den letzten Jahren immer eine gute Auslastung gehabt, sagt er, aktuell wird es um 3,5 Millionen Euro modernisiert. Andere Töne sind hingegen am Sonntagnachmittag beim Seniorentanz mit Livemusik im Hahn-Buam-Hof zu hören. "Das Kurhaus ist ein Auslaufmodell, obwohl so viel dran hängt", erzählt eine Frau. Mit der Investition wolle man es wieder zum Laufen bringen.

Insgesamt ist beim Tanznachmittag, bei dem auch der Wirt gelegentlich ein Lied für seine Gäste singt, die Zuversicht, wenn es um die Zukunft des Ortes geht, nicht sehr groß. "Bald schütten sie uns zu", sagt eine Besucherin, die sich nicht vorstellen kann, was der Ort ohne die wöchentliche Tanzveranstaltung wäre – "dann könnten wir hier gar nicht mehr fortgehen in unsere Seniorendisco", sagt sie wehmütig.

Beim Tanznachmittag singt regelmäßig auch der Wirt selbst ein Ständchen für seine Gäste.
DER STANDARD

"Schrumpfung gilt immer als Versagen, es klingt für viele nach Aufgeben und aktiver Sterbebegleitung", sagt die Raumplanerin. Die Menschen erleben weit mehr Begräbnisse als Geburten. Oft sei fast schon eine psychologische Betreuung notwendig. "Die Selbsteinschätzung in diesen Gemeinden ist oft ganz negativ, die Menschen fragen sich: 'Wer will denn noch zu uns?'" Weber weiß, dass viel Kreativität und Tatkraft verloren geht, wenn gut ausgebildete, junge Menschen weggehen und alte zurückbleiben: "Das ändert die Atmosphäre enorm."

Auf Rettung hoffen

Um der Region den sehnlich herbeigewünschten Aufschwung zu bringen, wünscht man sich am sonntäglichen Stammtisch einen Betrieb mit 500 Arbeitsplätzen herbei und einen Geldgeber, der das realisiert. Auch dieses Phänomen kennt Weber: Kleine Gemeinden würden es oft ablehnen, etwas selbst in die Hand zu nehmen. "Sie hoffen auf einen Investor oder das Land – eine ,große' Lösung, die sie retten kommt." Dabei könnten auch viele kleine Leute mit kleinen Schritten die Welt verändern.

Die Pertholzer wissen teilweise aber durchaus, dass man auch an sich selbst arbeiten muss – etwa um mehr Touristen in die Region zu locken. "Wir Waldviertler sind oft sehr verschlossen und wenig optimistisch, das schreckt Besucher ab", sagt einer der Männer der Stammtischrunde. In klassischen Touristenregionen im Westen Österreichs seien alle gleich per Du und viel herzlicher.

Die Bewohner wünschen sich einen Investor, der neue Unternehmen in der Gegend ansiedeln soll.
Fotos: Christian Fischer

Versuche, die Region attraktiver zu machen und Betriebe anzusiedeln, hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben, die meisten seien jedoch gescheitert. Warum? Dafür kennt jeder im Ort andere Gründe. Ein Gesundheitshotel, das ein russischer Investor realisieren wollte, sei nicht umgesetzt worden, weil einige Bewohner ein erhöhtes Verkehrsaufkommen befürchteten. Die Ansiedlung von Unternehmen sei verhindert worden, weil ein Großunternehmer Angst hatte, seine Mitarbeiter zu verlieren, oder der damalige ÖVP-Bürgermeister nicht wollte, dass zu viele Arbeiter in die Region kommen, die dann "rot" wählen könnten.

Heute jedenfalls sei das anders, versichert der Bürgermeister. "Wir versuchen, Betriebsgebiete zu ermöglichen und tun alles, was wir an Flächenwidmung zu bieten haben, um Ansiedlungen zu fördern." Auch ein weiterer Ausbau der Infrastruktur sei geplant. Doch großzügig Bauland auszuweisen und Angebot für Neubau zu schaffen, "obwohl im Ort oft dutzende Häuser leer stehen", sagt Raumplanerin Weber, sei ein Rezept, das nachweislich nicht funktioniere – "trotzdem nehmen Arbeitsplätze und Bevölkerungszahlen ab."

Bei guter Sicht hat dieses Rind einen unverbauten Ausblick auf das Kernkraftwerk Temelín. Bad Großpertholz liegt acht Kilometer Luftlinie von der tschechischen Grenze entfernt.
Fotos: Christian Fischer

Und wie sollen Gemeinden nun mit Schrumpfung umgehen? Weber rät: Zuerst müsse ihnen klar werden, dass Lebensqualität nicht automatisch mit wirtschaftlichem Wachstum steigt. Nur so könne man sich auf Schrumpfung vorbereiten, sie bewusst gestalten und die Chancen, die das Wenigerwerden bietet, erkennen. Dass es Vorteile gibt, zeigt ein Beispiel, das Weber aus Kärnten kennt. Dort verzichtet eine Gemeinde zugunsten einer anderen darauf, einen Kindergarten zu führen. Das Ergebnis: Ein großes Angebot mit Nachmittagsbetreuung – ein Komfort, den es sonst nur im städtischen Raum gibt. Webers konkretes Rezept: Betriebe aktiv anwerben, Kooperationen belohnen, Orte für Junge interessanter machen, innovative, selbstorganisierte und unkonventionelle Projekte zulassen: "Die Letzten von heute können die Ersten von morgen sein."

Was die Abwanderung in Pertholz betrifft, ist Bürgermeister Tannhäuser jedenfalls zuversichtlich. "Seit einiger Zeit sind wir auf null", sagt er und meint: Die Menschen werden nicht mehr, zumindest aber auch nicht weniger. Aufgeschlossen für neue Bewohner ist man jedenfalls. Franz Kitzler jun.: "Wir hoffen immer noch auf ein paar Flüchtlinge, dann könnten wir den Ort wieder bevölkern." (Bernadette Redl, 27.1.2018)