John E. Walker erhielt 1997 im Alter von 56 Jahren den Chemienobelpreis. Nun arbeitet er daran, seine fundamentalen Erkenntnisse zu praktischen Anwendungen für die medizinische Forschung zu führen.

Foto: Lindau Nobel Laureate Meeting

STANDARD: Herr Walker, Sie haben 1997 den Chemienobelpreis für ihre Arbeiten zum Adenosintriphosphat (ATP), dem Energieträger in Zellen, bekommen. Welche Rolle spielt ATP bei der Energieproduktion in der Zelle?

Walker: Ich werde oft gefragt, woher die Energie in der Zelle kommt. Die gesamte Energie in der Biologie wird von der Sonne erzeugt. Durch die Photosynthese wird die Sonnenenergie von den grünen Pflanzen aufgenommen und umgewandelt. Dabei wird Sauerstoff freigesetzt. Wenn wir ein Stück Holz verbrennen, setzen wir es in Flammen. Beinahe aller Sauerstoff, den wir atmen, wird in so einem Prozess konsumiert: Wir haben also lauter molekulare Maschinen, die von einer Turbine angetrieben werden. Ohne diese komplexen Maschinen gebe es kein Leben. Wir brauchen ATP für alles – um Muskeln aufzubauen und zu reproduzieren, für die Zellteilung und -erneuerung. Die Leute nennen ATP daher die universelle Währung für Energie in der Biologie: Sie ist dieselbe für alle Spezies auf der Erde – von Menschen zu den niedrigsten Bakterien, selbst Viren brauchen ATP, um leben zu können.

STANDARD: Worin bestanden die Schwierigkeiten, herauszufinden, wie dieser Prozess funktioniert?

Walker: In den späten 1970er-Jahren arbeitete ich mit Frederick Sanger, der damals schon einen Nobelpreis gewonnen hatte und später noch einen bekam. Damals entwickelte er gerade seine Methode zur Sequenzierung von DNA. Seine Methode wurde verwendet, um die menschliche DNA zu sequenzieren, aber er testete sie damals noch bei der Sequenzierung von kleinen DNA-Molekülen und zog dafür die mitochondriale DNA heran. Fast all unsere DNA befindet sich im Zellkern, nur ein kleiner Teil ist in den Mitochondrien. Durch meine Zusammenarbeit mit Sanger lernte ich mehr über die Mitochondrien und erkannte, dass nicht viel über den Prozess der Energieproduktion in der Zelle bekannt war. Ich hatte großes Glück, da wir an unserem Institut dazu ermutigt wurden, schwierige Langzeit-Projekte in Angriff zu nehmen – daher passte meine Idee sehr gut hinein. Viele meiner Kollegen waren aber recht skeptisch. Am Anfang dauerte es ziemlich lange, bis wir vorankamen – so wenig war über den Prozess bekannt. Bei der Sequenzierung der Proteine stieß ich schließlich auf alle drei ATP-Basen. Dann wollte ich verstehen, wie es funktionierte und das bedeutete, festzustellen, wie das auf atomarer Ebene aussieht. Die Leute sagten, dass es unmöglich sei, das herauszufinden. Manche meinten sogar, dass ich mir mit dieser Arbeit meine Karriere zerstörte.

Schematische Darstellung der Funktionsweise von Adenosintriphosphat, für dessen Erforschung John E. Walker gemeinsam mit Paul Delos Boyer und Jens Christian Skou 1997 den Chemienobelpreis bekommen hat.
Aditya Chopra

STANDARD: Sie haben diesen Skeptikern schließlich das Gegenteil bewiesen...

Walker: Ja, aber es dauerte etwa 15 Jahre, bis ich die Kristalle adäquat züchten konnte. Wir konnten bald Kristalle produzieren, aber sie waren nicht sehr gut. 1993 waren wir sehr schnell darin, wenn wir einmal den Kristall hatten, die Struktur zu lösen. Und dann blieb die Frage offen, wie das alles funktionierte. Eine wichtige Information kam von Paul Delos Boyer, mit dem ich schließlich den Nobelpreis bekam: Er schlug vor, dass das Enzym mit mechanischer Rotation funktionierte. Wenn man sich nur die Struktur ansieht, wirkt es so, als würde es sich drehen. Aber es gab keinen direkten Beweis für Rotation. Ich schlug das in einem Paper in "Nature" vor, aber viele Leute waren sehr skeptisch. Sie kamen zu mir und sagten, dass ich falsch lag. Sie sagten Dinge wie: "Enzyme funktionieren einfach nicht so, du verstehst die Enzyme nicht, John." Aber dann begannen andere Leute, die Rotations-These zu überprüfen. Schließlich gelang einer chinesischen Gruppe ein Experiment, wo man unter dem Mikroskop sah, dass das Gebilde wie ein Propeller aussah. Dadurch waren die meisten Leute überzeugt, dass meine Rotations-These korrekt war. Ich hatte Glück, denn ich bekam den Nobelpreis ziemlich rasch. Ich wurde danach zum Direktor eines Instituts ernannt und konnte so die Mitochondrien mit einem größeren Team erforschen.

STANDARD: Welche Fragen sind heute noch offen?

Walker: Es gibt immer noch Aspekte, wie das Enzym funktioniert, die noch nicht richtig verstanden worden sind. Ich arbeite daran, manche dieser Fragen zu klären. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie die Energie auf einem sehr detaillierten Level erzeugt wird – aber wir kommen dem immer näher. Es wird möglicherweise noch weitere vier oder fünf Jahre an Forschungsarbeit benötigen, um eine Antwort darauf zu haben. Worin wir weiters aktiv sind, ist, unsere Forschung für die Menschheit und für die Medizin nutzbar zu machen. Meine Finanzierung kommt vom Medical Research Council von Großbritannien und ich arbeite daran, dass wir zeigen können, dass dies nicht nur eine fundamentale Entdeckung ist, sondern dass sie auch praktischen Nutzen hat.

STANDARD: Was könnte dieser Nutzen konkret sein?

Walker: Ich hatte die Idee, dass wir einen Hemmstoff des bakteriellen Enzyms finden könnten, der das menschliche Enzym nicht angreifen würde und eventuell ein Antibiotikum werden könnte. Schließlich konnte gezeigt werden, dass das tatsächlich stimmt. Ein Pharmaforscher testete Medikamente gegen Tuberkulose und fand heraus, dass das neue Medikament die Tuberkulosebakterien sehr gut abtötet. Es wird nun klinisch genutzt – das erste Medikament, das klinisch gegen Tuberkulose eingesetzt wird. Damit war bewiesen, dass es einen wichtigen Unterschied zwischen bakteriellen Enzymen und einem menschlichen Enzym gab. Das ist nun zum wesentlichen Thema in meiner Forschung geworden. Wir versuchen nun auch, ein Medikament gegen Malaria zu entwickeln.

Der britische Biochemiker John E. Walker in einem Interview 2016.
GlobalBiotechRevolution

STANDARD: Im Jahr 2017, vor allem auch durch den Amtsantritt des US-Präsidenten Donald Trump, ist häufig von der postfaktischen Gesellschaft die Rede gewesen: Wie verändert sich die Verantwortung von Wissenschaftern in einer Zeit, in der Fakten und auch wissenschaftliche Erkenntnisse etwa im politischen Diskurs nicht mehr so schwer wiegen, wie es in den Dekaden zuvor der Fall gewesen ist?

Walker: Als Wissenschafter müssen wir auf Wahrheit beharren. Und es gibt nur eine Wahrheit, es gibt keine alternativen Fakten. Der aus Wien stammende Chemiker Max Perutz war einst Direktor an meinem Institut in Cambridge. Er erhielt den Nobelpreis für seine Arbeit am Hemoglobin. Am Ende seiner wissenschaftlichen Karriere sagte er: "In science, truth always wins". Wir haben eine Gedanktafel an der Wand, auf der das steht. Natürlich: Manchmal machen Wissenschafter Vorschläge, die zwar ehrlich gemeint sind, aber die nicht korrekt sind. Doch als Wissenschafter kann man Ideen testen. Manchmal finden wir heraus, dass etwas falsch ist – dann müssen wir es beiseite rücken, um in der Wissenschaft voran zu kommen. Es gibt keinen Raum für so etwas wie alternative Fakten in der Wissenschaft, es gibt nur eine Wahrheit.

STANDARD: Warum gibt es offenbar immer mehr Menschen, auch Politiker, die skeptisch sind gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen?

Walker: Das Gebiet, wo das am augenscheinlichsten ist, ist der Klimawandel. Nur äußerst wenige Wissenschafter bezweifeln, dass der menschengemachte Klimawandel stattfindet – es gibt einfach zu viele Indizien dafür. Wir müssen uns also fragen, warum weigern sich manche Menschen, das zu akzeptieren. Sie müssen irgendein Motiv haben. Oft hat das mit dem Wunsch zu tun, Geld zu verdienen. Es sind basale Motive wie dieses, dass manche Menschen daran festhalten, dass wir immer noch Kohle abbauen und Öl verbrennen, obwohl es vollkommen klar ist, dass wir damit aufhören sollten. Um zunehmend auf Grüne Energie umzusteigen, braucht es nationale Verpflichtungen, vor allem von so großen Industrienationen wie den USA. Im Weg stehen Organisationen, die gezielt Lobbying betreiben. Man muss lernen, damit zu leben, und so gut es geht, zu demonstrieren, dass das, was sie behaupten, Unsinn ist. Ein anderer Bereich ist die Evolutionslehre. Erst heuer wurde die Evolutionslehre aus Schulbüchern in der Türkei entfernt. Das Problem beginnt schon damit, dass die Leute nicht über Evolution, sondern über die Evolutionstheorie sprechen. Aber es ist keine Theorie, die Evolution findet nachweislich statt. Es gibt hier keinen Raum für Gegenargumente. Es sind vor allem diese beiden Bereiche, wo einige Menschen die Wissenschaft ersetzen wollen, um sie mit etwas völlig Irrationalem zu ersetzen. (Tanja Traxler, 27. 12. 2017)