Diese Illustration Étienne Colauds von 1537 zeigt eine Zusammenkunft von Doktoren an der Universität Paris.

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Innsbruck – Nie wurden so enorme Mengen an wissenschaftlicher Erkenntnis produziert wie heute, und niemals zuvor in der Geschichte verlor Wissen so schnell seine Gültigkeit. Da hatte man es in früheren Jahrhunderten leichter, als sich das Rad der Wissensproduktion noch langsam drehte. Mitunter jedoch war dieses neue Wissen von einer Radikalität, die im Denken der Menschen und in ihrer Weltwahrnehmung keinen Stein auf dem anderen ließ.

So kam es zwischen dem späten 15. und dem frühen 18. Jahrhundert zu einer anhaltenden wissenschaftlichen Revolution, deren Erkenntnisse das Fundament der modernen Naturwissenschaften bilden. Durch die Erfindung des modernen Buchdrucks im 15. Jahrhundert hat sich das neue Wissen relativ schnell verbreitet. Und zwar in lateinischer Sprache.

Bis weit in die Neuzeit hinein war Latein die Lingua franca der europäischen Gelehrtenwelt, die Sprache einer frühen Scientific Community. Selbstverständlich hat man auch die Gelehrtendispute über alle Länder- und Sprachgrenzen hinweg in dieser schon damals "toten" Sprache ausgetragen. "Dieses Faktum wird von der Wissenschaftsgeschichte zurzeit allerdings nicht zur Kenntnis genommen", ist der Latinist Martin Korenjak vom Institut für Sprachen und Literaturen an der Uni Innsbruck überzeugt.

Starke Spezialisierung

Die Ursache dafür sei vor allem in der fortschreitenden Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen und deren gegenseitiger Entfremdung zu suchen: "Die meisten Wissenschaftshistoriker können die neulateinischen Texte nicht lesen, und die klassischen Philologen haben mit den Naturwissenschaften oft nichts am Hut." Die Folge ist eine Lücke in der Wissenschaftsgeschichte, die ein tieferes Verständnis dieses für die moderne Welt so entscheidenden wissenschaftlichen Umwälzungsprozesses in der frühen Neuzeit verhindert.

Mit ihrem vom Europäischen Forschungsrat (ERC) mit 2,4 Millionen Euro geförderten Projekt "Nova Scientia. Frühneuzeitliche Naturwissenschaft und Latein" wollen Martin Korenjak und sein sechsköpfiges Team in diese Terra incognita vordringen.

Dass die Expedition in diese vernachlässigten Regionen der Wissenschaftsgeschichte überhaupt möglich wurde, ist nicht zuletzt der Digitalisierung zu verdanken. "Noch vor zehn Jahren hätten wir dieses Projekt nicht durchführen können", so der Altphilologe. "Mittlerweile gibt es aber etliche frühneuzeitliche Textsammlungen im Web, über die man auf die entsprechenden Bände zugreifen kann." Aus diesem umfangreichen Material wollen die Forscher nun eine Auswahl an repräsentativen Texten treffen und einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorstellen. Eingeteilt nach Jahrhunderten, Herkunftsregionen und Disziplinen sowie formal nach ihrer literarischen Gattung – Traktat, Aufsatz, Lehrgedicht, Emblembuch etc. –, werden etwa 1.500 wissenschaftliche Texte aus den Sammlungen herausgefiltert und in Form einer Onlinedatenbank zugänglich gemacht. Davon wiederum sucht das interdisziplinäre Forscherteam 200 besonders interessante und charakteristische Schriften aus, die schließlich mittels optischer Texterkennung maschinenlesbar und -durchsuchbar gemacht werden.

Wer aber soll sich zwecks wissenschaftlicher Nutzung aus dieser aufbereiteten Sammlung bedienen, wo doch die meisten Wissenschaftshistoriker das Lateinische nicht ausreichend beherrschen? "Neben Philologen mit naturwissenschaftlichem Interesse und Wissenschaftshistorikern mit guten Lateinkenntnissen denken wir hier vor allem an Kooperationen von Geistes- und Naturwissenschaftern", betont Korenjak. Die gegenseitige Annäherung dieser beiden wissenschaftlichen Universen sei generell von zentraler Bedeutung. "Leider haben sich in den letzten zwei Jahrhunderten Geistes- und Naturwissenschaft immer weiter voneinander entfernt, sodass weitreichende gesellschaftliche Entscheidungen meist auf gänzlich ungenügenden Grundlagen getroffen werden."

Wie bedeutend die geisteswissenschaftlichen Anteile bei der Verbreitung der lateinischen Wissenschaftsliteratur waren, wollen die Forscher im zweiten Teil des Projekts erkunden. Hier geht es um die Frage, wie die damaligen Autoren Leser von den eigenen neuen Erkenntnissen so nachhaltig überzeugen konnten. Um das herauszufinden, stützen sich die Forscher in ihren Analysen auf die Theorie der Rhetorik.

Weltbild umgestaltet

Wie es im Zuge der damaligen wissenschaftlichen Revolution mit lateinischen Texten gelingen konnte, das Weltbild praktisch der gesamten Scientific Community Europas umzugestalten, soll auf dieser Basis untersucht werden: "Zunächst schauen wir uns an, wie die Terminologie für all diese neuen Ideen und Konzepte entworfen wurde, für die es ja noch gar keine Worte gab", erklärt Korenjak. "Immerhin beruht unsere heutige naturwissenschaftliche Terminologie zum Großteil nach wie vor auf dem, was damals in lateinischer Sprache entwickelt wurde." Neue Einsichten erhoffen sich die Forscher zudem hinsichtlich der Frage, wie die Verfasser ihren Lesern komplexe Sachverhalte erklärten, sodass diese auch verstanden wurden. Wie hat man sie für Fachkollegen, wie für Laien aufbereitet? Und da es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch um die hohe Kunst der Überzeugung ging, werden im Projekt auch die wissenschaftlichen Debatten unter die Lupe genommen. (Doris Griesser, 28.12.2017)