Kurz' und Straches doppelte Staatsbürgerschaft für deutsch- und ladinischsprachige Südtiroler ist nur im ersten Blick eine Stärkung von Minderheitenrechten.

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Seit 1946 hat Österreich seine territorialen Ansprüche auf Südtirol aufgegeben und mit dem Gruber-De-Gasperi-Abkommen eine "Schutzmachtfunktion" für die deutschsprachige Minderheit in Italien übernommen. Was das genau bedeutet, ist in dem bilateralen Vertrag nicht detailliert ausgeführt, heißt aber de facto, dass Österreich historisch auf Italien Druck bezüglich der Umsetzung der Autonomie und der damit verknüpften Minderheitenrechte ausgeübt hat und seither die Beibehaltung dieser Errungenschaften – beispielsweise im Zuge etwaiger Verfassungsreformen in Italien – einmahnt. Eine Doppelstaatsbürgerschaft, obwohl aus Bozen vielfach gefordert, war aber bisher nie Bestandteil österreichischer Regierungspolitik. Doch was auf den ersten Blick als Stärkung von Minderheitenrechten erscheint, könnte im konkreten Fall negative Auswirkungen auf den Minderheitenschutz mit sich bringen.

Erstens sehen die Pläne der Regierung die Möglichkeit der Doppelstaatsbürgerschaft nur für Angehörige der deutschen und ladinischen Sprachgruppe vor. Italienischsprachige Südtiroler kämen nicht in den Genuss dieser Maßnahme. Obwohl diesen freistünde, sich zu einer der beiden anderen Sprachgruppen zu bekennen, wären die geplanten Regelungen der Regierung restriktiver – und somit schwerer zu rechtfertigen – als in anderen, vergleichbaren Fällen. In Nordirland etwa ist der Anspruch auf die irische Staatsbürgerschaft an den rechtmäßigen Aufenthalt in der Region gekoppelt, unabhängig von der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit. Die italienische Staatsbürgerschaft für die italienische Minderheit in Istrien kann als Ersatz für eine territoriale Autonomie gesehen werden, was entsprechende Vergleiche fragwürdig erscheinen lässt.

Mögliche Polarisierung

Dementsprechend argumentieren Kritiker in Südtirol, dass die Doppelstaatsbürgerschaft eine mehrfache Spaltung der Bevölkerung mit sich bringen könnte. Einerseits wird eine Kluft zwischen "Doppelpasslern" und "Nicht-Doppelpasslern" befürchtet, andererseits auch zwischen jenen, die einen solchen Pass beantragen können, und denjenigen, denen dies verwehrt bleiben wird. Vor dem Hintergrund einer möglichen Polarisierung lehnen progressive Kräfte in Südtirol auch seit Jahrzehnten etwaige Formen der nationalen Selbstbestimmung ab.

Zweitens würde eine Doppelstaatsbürgerschaft nur für Deutsch- und Ladinischsprachige den ursprünglichen Zweck der sogenannten Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung untergraben. Dieses Instrument wurde gemeinsam mit dem ethnischen Proporz in den 1970er-Jahren eingeführt, um die Dominanz der Italienischsprachigen im öffentlichen Sektor (zum Beispiel bei der Vergabe von Gemeindewohnungen oder von Posten in der Verwaltung) auszugleichen. Der minderheitenpolitische Erfolg dieser Maßnahmen ist unbestritten.

Allerdings wurden Proporz und Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung geschaffen, um historisches Unrecht zu beseitigen und Chancengleichheit zwischen den Sprachgruppen in Südtirol herzustellen. Verknüpfte man die Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe nun mit staatsbürgerschaftlichen Rechten in einem anderen Land, so stellte man die ursprüngliche Funktion des Minderheitenschutzes infrage. In letzter Konsequenz stünde die Legitimität von Proporz und Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung auf dem Spiel – mit ungewissen Implikationen für das Zusammenleben in Südtirol.

Territoriale Dimension

Drittens ziehen die Pläne der Regierung die territoriale Dimension der Südtirolautonomie und die Funktion Österreichs als "Schutzmacht" in Zweifel. Durch die Doppelstaatsbürgerschaft würde Österreichs Schutzmachtfunktion verstärkt auf einer individuellen Basis greifen. Das hieße, dass sich Doppelstaatsbürger, die ihre Minderheitenrechte verletzt sehen, an österreichische Institutionen wenden könnten, während ausschließlich italienischen Staatsbürgern dieser Weg versperrt bliebe.

Dies ist nicht nur für die betroffenen Personen problematisch, sondern auch für Südtirols Status als autonome Provinz innerhalb des italienischen Staates. Bisher konnten österreichische und Südtiroler Politiker den Sonderstatus der Provinz Bozen stets mit der besonderen linguistischen Situation vor Ort rechtfertigen – auch zu jenen Zeiten, wenn Reformen des italienischen Staates eher zentralistische Tendenzen aufwiesen. Dieser Sonderstatus wäre allerdings viel schwerer zu rechtfertigen, wenn den Südtiroler Minderheiten durch die österreichische Staatsbürgerschaft eine "Exit-Option" aus dem italienischen Staat offenstünde.

Italien als Südtirols "Schutzmacht"

Die Pläne von Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache scheinen also integrale Bestandteile des hart erkämpften, aber weitestgehend erfolgreichen Minderheitenschutzes in Südtirol zu untergraben. Allerdings ist dieses Vorhaben der Regierung bisher lediglich eine vage Absichtserklärung. Zudem beteuerte Kurz mehrmals, dass unilaterales Vorgehen in dieser Frage nicht zur Debatte stünde. Angesichts der ablehnenden Haltung aller Parteien in Rom dürfte diesmal jedoch Italien als weitsichtige "Schutzmacht" der Interessen Südtirols fungieren. (Patrick Utz, 27.12.2017)