Günther Anders im Jahr 1983.

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Wien – Der in Breslau geborene Günther Anders (1902-1992) lebte seit der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil in Wien. Der "philosophische Kronzeuge" der Epoche reflektierte seine Zeit wie kaum ein anderer. Der "Gelegenheitsphilosoph", "der sich Systematik nicht leisten" konnte, verarbeitete sein Leben lang den erlebten und erlittenen Zerfall der Werte, die Jahrhundertschocks Auschwitz und Hiroshima. Sein "bohrender Scharfsinn" und seine "unbeugsame Haltung" brachten ihm viel Verehrung, seine provozierenden Thesen wurden aber oft als "intellektuell wie emotional strapazierend" empfunden, so dass er auch als "Nörgler" und "Panikmacher" galt.

Damit seine philosophischen Gedanken unmittelbar wirken, damit sie, wie er sich wünschte, ein breites Publikum erreichen und in der prekären Weltsituation zum Handeln bewegen, bediente sich der musisch begabte Anders verschiedenster literarischer Mittel und Genres. Sein angestrebter "ungewohnter Stil der Darstellung" ergab philosophische Texte, die als höchst eindrucksvolle Literatur anmuten.

Bedrohung der Menschheit

Seine Leser direkt anzusprechen und zu belehren, ist Anders’ unverhohlenes Ziel. Daher verwendet er in seinen Schriften häufig die Tagebuchform. In diesen "Warnbildern" geht es ihm nicht um die faktische Wahrheit, sondern um die Wahrheit bestimmter Phänomene. Dem Exilanten, der "zur Revision aller geistigen Grundlagen gezwungen war", wird die globale Bedrohung der Menschheit und alles Humanen zu einem obsessiven Thema.

Anders geht es aber auch um das Dekorum. Um seine Ideen zu verdeutlichen, reiht er immer neue sprachgewaltige Bilder, Fabeln und Gedichte aneinander. Dazu will er die Fülle von Metaphern, paradoxen Inversionen, Vergleichen und Maximen, oft angesiedelt im erfundenen Land Mosussien, als ultimativen Beweis für die Richtigkeit seiner Ausführungen wissen. Auch seine Kunst der dramatischen Darstellung nutzt Anders, um die Dramatik der Weltlage zur Schau zu stellen. Er erfindet Situationen und Gestalten, die ihm repräsentativ vorkommen, lässt uns an der Absurdität und Komik seiner Mini-Dramen teilnehmen und sie genießen. Aber kommen wir dadurch zur Einsicht? Führt uns dies zur Erkenntnis vom gesellschaftlichen Ernst und zum Handeln?

Weltverbesserer und Dichter

In seinen nach Arendts Tod aufgezeichneten "Hannah-Dialogen" – "mehr Dichtung als Wahrheit", wie er schreibt – schildert Anders, wie er ihre Diskussion über die Monaden am Abend danach in Form eines Gedichtes zusammengefasst hat. Auf Arendts Überraschung darüber, dass er dichten kann, antwortet Anders: "Ich verstehe noch nicht einmal, wie man nicht dichten können kann." Und wenn ihm Arendt das Gedicht rezitiert haben soll, stellt er fest: "Und nun erst, da es aus ihrem Munde zu mir kam, schien es mir ganz gelungen, und sogar seine Aussage unwidersprechbar..."

Die Wahrheit ist für Anders also erst ästhetisch gestaltet "unwidersprechbar". Somit scheint der unbeugsame Weltverbesserer doch "nur" ein Dichter gewesen zu sein, der seinem künstlerischen Prozedere im Denken und Schaffen treu bleibt. Aber auch einer, der sich bei all seinem Engagement der Ohnmacht des Schreibenden bewusst ist: "Mir geht es wie einer Ameise [...], die auf einem pausenlos praller werdenden Ballon kriechend dessen Nordpol zu erreichen versucht. Obwohl sie unbeirrbar vorwärts krabbelt und ihr Ziel niemals aus den Augen verliert, entfernt sich dieses doch von Augenblick zu Augenblick immer weiter von ihr."

Anders‘ Warnungen vor der atomaren Gefahr und der Gefährdung des Menschen durch den Menschen scheinen einmal mehr aktueller denn je zu sein. Dürfen wir dann die Werke des Atomzeitalter-Philosophen als literarischen Genuss, beziehungsweise seine gewollte "stilistische Brillanz" getrennt von seinen Ideen feiern? Es ist zu vermuten, dass dies nicht im Sinne Günther Anders’ wäre. (Javorka Finci-Pocrnja, 29.12.2017)